„Nimm dich der Wahrheit an, wenn du kannst, und laß dich gerne ihrentwegen hassen;
doch wisse, daß Deine Sache nicht die Sache der Wahrheit ist, und hüte, daß sie nicht
ineinanderfließen, sonst hast du deinen Lohn dahin.“
Matthias Claudius, Sämtliche Werke, 8. Aufl. 1996, S. 547 [An meinen Sohn Johannes (1799)]
Einführung
Es geht um eine alte Prophetie und darum, ob man sie verstehen und ihr glauben kann.
Um hier ins Klare zu kommen, möge man sich an die historischen Kapitel halten. Eine
Prüfung kann hier allerdings nur dann zielführend sein, wenn der Prüfende Geschichts-
kenntnisse in den Bereichen hat, von denen gehandelt wird. Dann kann es ein Wieder-
erkennen des Bekannten in dem unbekannten und zunächst unverständlichen Text des
Nostradamus geben. Die gebotene Kommentierung ist die Hilfe zum Verständnis, die
der Kommentator geben kann, nachdem er sich zuvor selbst davon überzeugen musste,
ob und wo ein Text geschichtlich zugeordnet werden kann.
Wenn das Ergebnis der Prüfung positiv ausfällt, wird auch ein Interesse an der angebotenen
Vorschau geweckt sein. Auch hier geht es zunächst um Glaubwürdigkeit, aber dann vor allem
darum, vor einem falschen Heilsbringer zu warnen. Die Frage der Glaubhaftigkeit ist bei noch
nicht eingetretenen Prophezeiungen noch schwieriger zu beantworten als bei erfüllten, weil
Historisches, selbst meist nicht Erlebtes aus der Distanz betrachtet wird, während sich an die
Zukunft Erwartungen und Wünsche knüpfen, die nicht gern enttäuscht werden. Aber genau
das muss Prophetie tun, weil sie, wenn sie echt ist, nur von Gott kommen kann und daher der
Wahrheit verpflichtet ist. Sie muss die Hoffnungen auf eine friedliche Zukunft enttäuschen,
indem sie den Menschen den Spiegel vorhält, in dem ihr hartnäckiger Unwille und ihre Unfähig-
keit zum Frieden erkennbar werden. Freilich scheiden sich da schon die Geister.
Wäre etwa im Jahr 1930 mit prophetischem Anspruch vorausgesagt worden, dass in Deutsch-
land bald ein Mann nach oben kommen werde, der begeistert gefeiert, ja fast wie ein Messias
verehrt werden werde, dann auch wirklich dem Land wieder aufhelfen, aber nach einigen
Jahren einen Krieg vom Zaun brechen und das Land in den Abgrund führen werde - hätte
man dieser Prophezeiung geglaubt? Die Anhänger Hitlers, die er damals schon hatte, sicher-
lich nicht, denn sie hatten ja schon ihren Propheten, und der sprach von nationaler Erneuerung,
von der Revision der Versailler Friedensordnung, von der Einheit der Volksgemeinschaft usw.,
aber nicht vom Krieg. Was hätten seine politischen Gegner gesagt? Wir wissen um die
Gefährlichkeit Hitlers, deshalb bekämpfen wir ihn ja, und diese Prophetie ist ein Trick seiner
Propaganda, der uns entmutigen soll, darauf fallen wir doch nicht herein. In der Politik hätte
die Prophetie überhaupt nichts ausgerichtet, es wäre alles genauso gekommen wie es ge-
kommen ist.
Es ist nicht anzunehmen, dass es mit der Prophetie des Nostradamus anders sein wird; die
Welt nimmt davon im Ernst keine Notiz, und eben deshalb kann es so kommen, wie es prophe-
zeit ist. Wozu dann also Prophetie? Sie kann helfen, sich ein Urteil zu bilden über einen
Mann, der in naher Zukunft selbst mit dem prophetischem Anspruch auftreten wird, dass er
demnächst dem Gottesreich auf Erden zum Durchbruch verhelfen werde. Er wird es ver-
stehen, sich zu bewerben für die noch >offenen Stellen< der drei Offenbarungsreligionen
und wird auch angenommen werden. Diesen falschen Messias machen die Menschen groß,
weil sie den Wolf im Schafpelz nicht erkennen und auch nicht erkennen wollen. Da ihm
große Macht verliehen wird, wird kein Mensch umhin kommen, Stellung zu nehmen zu den
Anordnungen seines Regimes. Das Verbot der alten Religionen, das am Ende ergeht, führt
zum >Krieg< gegen deren Anhänger, die von ihrem jeweiligen alten Glauben nicht lassen
wollen. Wer dieses Ende dank der Prophetie absieht, sieht klarer als vorher, auch wenn
seine Stellungnahme ihm dadurch nicht leichter wird.
Diese Ungeheuerlichkeiten als glaubwürdig auszugeben, ist freilich eine gewaltige Zumutung,
zumal es ja genügend konkurrierende Deutungen der Centurien des Nostradamus gibt, die
zwar auf Missverständnissen beruhen, aber leichter geglaubt werden, weil sie das Gemüt
weniger belasten, vielleicht auch, weil sie unterhaltsamer sind. Oder man verwirft alles
zusammen als Spinnerei, dann hat man es leicht, hat aber auch eine Chance vertan.
Zu Michel de Nôtredame (* 1503, gest. 1566) gibt es unübersehbar viel Literatur. Allein
schon der Name >zieht< und lässt sich gut vermarkten. Wer sich Unterhaltung der gruseligen
bis grotesken Art erhofft, wird reichlich bedient. So gibt es keinen Mangel an Werken, die
>den Schlüssel< zum Nostradamus >endlich gefunden< oder ihm gleich noch die >letzten<
Geheimnisse entrissen haben wollen. Autoren auf der Höhe der Zeit bedienen sich dabei
komplizierter Computer-Programme.
Die Ergebnisse haben es in sich. „Der Bedeutungszuwachs der Raumfahrt wird unser
Überleben sichern“ - „Die Existenz außerirdischen Lebens findet Bestätigung“, um nur ein
Beispiel zu nennen (Manfred Dimde, Die Weissagungen des Nostradamus, Neu entschlüsselt,
2. Aufl. 1991). Ist das Werk des Verseschmieds aus dem 16. Jahrhundert vielleicht ein Vor-
läufer der Literaturgattung Science Fiction, seiner Zeit weit voraus, noch viel weiter als die
utopischen Romane eines Jules Verne oder die genialen Zeichnungen eines Lionardo da Vinci?
Dann bliebe nur die Frage offen, warum Nostradamus Aussagen dieser Art in schwer verständ-
lichen Verslein versteckt haben sollte. Das hätte er doch auch klar sagen können. Freilich
hätte man ihn verlacht, aber er hätte die Genugtuung gehabt, in ferner Zukunft als Prophet
des technologischen Stadiums der Zivilisation anerkannt zu sein.
Es gibt noch andere moderne Deutungsmuster. Der Autor der in Hundertschaften (= Zenturien)
zusammengestellten Verse habe vor >Auswüchsen< technischer Entwicklungen warnen wollen,
die der Beherrschung durch den Menschen entgleiten könnten, sei so etwas wie ein früher
Wissenschaftskritiker und Umweltschützer. Beispielsweise übersetzt Kurt Allgeier (Die Prophe-
zeiungen des Nostradamus, München 1988) den Vers 3/44 (= Zenturie 3, Vers 44) so:
„Wenn das vom Menschen gezähmte Tier
wird zu sprechen beginnen, nach großen Mühen und Sprüngen,
wird der Blitz aus dem Stab so verderblich sein,
dass er von der Erde genommen und in die Luft gehängt wird.“
Es soll sich da um Manipulationen am Genom von Tieren handeln, die deren Intelligenz sprung-
haft steigern und sie zum Sprechen befähigen werde, und dann gehe es um Laserstrahlen, die
in den Weltraum verbannt werden - beides Entwicklungen, die auf nicht näher erklärte Weise
Unheil bringen. (In Wahrheit ist der Vers nur mit Hilfe der Offenbarung des Johannes zu deuten.)
Interpretationen dieser Art lassen den Verdacht aufkommen, dass in den Text etwas hineinge-
lesen wird, was der Autor nicht wirklich gemeint hat. In solchen Ergebnissen spiegelt sich nicht
das Bewusstsein des Sehers, sondern das des betreffenden Interpreten. Der füttert mit solchen
Deutungen den Wissenschaftsglauben, gleich ob in der optimistisch-utopischen oder in der
kritisch warnenden Variante. Denn die Kritik an Wissenschaft und Technik geht auch meist
davon aus, dass der Mensch schon noch alles im Griff habe, wenn er nur immer brav seine
Hausaufgaben mache.
Viel interessanter als sich selbst zu spiegeln, könnte es werden, die Schau eines Mannes auf
unsere Zeit nachzuvollziehen, der bei allem ihm eigenen Wissensdurst noch ganz im christlichen
Weltbild des Mittelalters verankert ist. Manche heutigen Selbstverständlichkeiten könnten dann
in Frage gestellt erscheinen. Freilich muss man vom Mittelalter nichts übernehmen; aber die
eigene Zeit aus der gleichen Distanz wie geschichtliche Zeiten zu betrachten, könnte reizvoll
oder sogar nützlich sein.
Man kann die Zenturien nur aus ihren Voraussetzungen, d.h. aus den geschichtlichen Erfahrun-
gen ihrer Entstehungszeit heraus verstehen. Zu diesen Erfahrungen gehört die Infragetellung
des alten Glaubens durch die neuen Lehren Luthers und Calvins, aber ebenso die Bedrängnis
des Abendlandes durch den militant vordringenden Islam. In Frankreich wird die Schwäche des
Königshauses der Valois nach dem Tod König Heinrichs II. von den Konkurrenten ausgenutzt
unter dem Vorwand, >die Religion<, d.h. den Katholizismus, gegen ihre Feinde besser schützen
zu müssen. Der Kaiser ist schwach, muss hinnehmen, dass sich die protestantisch gewordenen
Reichsstände 1532 in Nürnberg und 1555 in Augsburg behaupten können. All das hat Nostra-
damus, der über eine umfassende Bildung verfügte, gewusst, und vor allem das Brüchigwerden
der mittelalterlichen Glaubensgewissheiten hat ihn schwer beunruhigt. Die Infragestellung des
alten Glaubens und der kirchlichen Autorität gilt ihm als direkter Weg zum Ungehorsam auch
gegen die weltliche Herrschaft der Fürsten. Wer die alte Religion in Frage stelle, werde am
Ende auch keinen weltlichen Herrn mehr über sich dulden. Die Herrschaft der Kaiser, Könige
und Fürsten ist im 16. Jahrhundert noch nicht wirklich bedroht, aber N. hat gesehen, dass es
einmal soweit kommen werde, wie z.B. aus den Kapiteln 8 und 9 über die britische Monarchie
und aus den Kapiteln 15 bis 18 über die französische Revolution hervorgeht.
Bei aller Aufgeschlossenheit für den Wandel des Weltbildes seiner Zeit, etwa in der astronomi-
schen Wissenschaft, ist Nostradamus noch in der Glaubensgewissheit des Mittelalters verankert.
Dem modernen Menschen ist diese Glaubensgewissheit abhanden gekommen, weil er als auf-
geklärter Mensch an Anderes glaubt, z.B. daran, dass der Mensch kraft seiner Vernunft fähig
sei, die Welt auch ohne Gott zu einem immer besser bewohnbaren Ort zu machen.
Neben Geschichtskenntnissen, ohne die es gar nicht geht, muss man wissen, wie der Seher
sich selbst versteht und nach welchen Maßstäben er die Dinge beurteilt. In der Vorrede an
Heinrich II., Abschnitt (11), zitiert er Joel Kapitel 3 Vers 1: „Ich will meinen Geist über alles
Fleisch ausgießen, und es werden weissagen eure Söhne und eure Töchter“. Immer und
überall sei es deshalb möglich, dass Menschen von Gott dazu berufen werden, den anderen
Menschen etwas mitzuteilen, so dass sich niemand wundern müsse, wenn das geschehe.
Er selbst sei nun aber kein Prophet, da er nicht das Wort Gottes wiedergeben könne, sondern
nur ein Seher mit Visionen, zu denen allerdings auch akustische Wahrnehmungen gehören,
3/81 (Kap.8), 1/64 (Kap.31). Und er sei ein ehrlicher Visionär, denn in die von Gott verliehene
Sehergabe habe er „nichts hineingemischt, was von einem Schicksalsspruch herrührt“, VH (11).
Was von Schicksalssprüchen herrührt, ist deren Deutung, die bezweifelt werden kann, weil
auch andere Deutungen möglich sind. Er denkt an die delphische Pythia und ihre stets mehr-
deutigen Antworten und will zu verstehen geben,
· dass er seine Visionen nicht mit eigenen Zusätzen und Deutungen des Geschehens
belastet habe, sondern >nur das wiedergebe, was er gesehen habe<,
· dass seine Texte zwar mehrdeutig formuliert sind, aber jeweils nur einen Sinn haben,
der zutrifft, VH (10), und ermittelt werden kann, wenn die Voraussetzungen vorliegen.
Dass er >nur das wiedergebe, was er gesehen habe<, ist sicherlich falsch, denn wer Bilder,
gleich welcher Herkunft, mit Worten beschreibt, kann gar nicht anders, als sie mit dem schon
vorhandenen Wissen zu beschreiben und sie nach irgendwelchen Maßstäben zu beurteilen,
d.h. sie zu deuten. Wer die Verse erklären will, muss also wissen, dass er es mit gedeuteten
Visionen zu tun hat und dass die Deutungsmuster herauszuarbeiten sind, die dem Seher sein
Weltbild nahelegte. Zu den Voraussetzungen für eine zutreffende Deutung der Texte gehört
dann auch, dass der Deutende keine eigenen Ideen mitbringt, die er in den Texten wieder-
finden will, sondern ausschließlich Hörender ist, der sich allein für das interessiert, was der
Visionär eigentlich mitteilen will.
Aber warum hat es N. der Nachwelt überhaupt so schwer gemacht, warum hat er sich so unklar
und vieldeutig ausgedrückt ? Er wollte nicht Klartext reden, erstens weil er fürchtete, sich bei
weltlichen und kirchlichen Autoritäten unbeliebt zu machen, wie er in Abschnitt (5) der Vorrede
an seinen König Heinrich II. zu Protokoll gibt. Das ist begreiflich insofern, als es für das Königs-
geschlecht der Valois, mit dem er Umgang hatte, nicht viel Angenehmes vorauszusagen gab.
Der herrschende König wird nicht alt, und gleiches gilt für alle noch kommenden Herrscher aus
diesem Haus. Das Land ist ab 1562 in Glaubenskriegen zerrissen, und im Jahr 1589 sterben
die Valois auch noch aus.
Mehr als die Ungunst der Fürsten fürchtete Nostradamus, bei kirchlichen Autoritäten als Ketzer,
als Abweichler vom rechten Glauben verdächtigt und denunziert zu werden. Das ist damals sehr
gefährlich, kann Haft, peinliches Verhör und Scheiterhaufen bedeuten. Um dem vorzubeugen,
betont er in der erwähnten Vorrede seine Treue zum Glauben und zur römischen Kirche, VH (8),
und sucht die Protektion durch den König und die königliche Familie, VH (46), was ihm in den
letzten Jahren seines Lebens auch gelingt. Um Denunziationen vorzubeugen, drückt er sich aber
auch absichtlich unklar aus. So benutzt er z.B. den Ausdruck le prelat der Prälat im historischen
Vers 6/31 (Kap.37) und im noch nicht erfüllten Vers 6/93 [V], um jeweils einen Papst zu be-
nennen. Ein Prälat ist der Inhaber der Jurisdiktion einer Ortskirche oder ein anderer hoher
Würdenträger der Kirche. Derer gibt es viele, und so hätte der Versdichter immer abstreiten
können, dass von Päpsten und damit von Vorgängen die Rede sei, die die ganze katholische
Kirche betreffen.
Doch manche Verse, gerade die schon erfüllten, handeln von politischen Ereignissen und betreffen
Kirche und Glauben nur mittelbar oder gar nicht. Hier war es noch aus einem anderen Grund
notwendig, die Prophezeiungen zu verdunkeln. Wenn Vorhersagen die Ergebnisse des Handelns
der Menschen vorwegnehmen, können sie, soweit sie verstanden werden, sich als Eingriff in die
Handlungsfreiheit auswirken. Sie können dann geglaubt werden, und es kann sich in der Vor-
stellung bewusst oder unterbewusst ein Zwang zur Erfüllung festsetzen; die Prophezeiungen
erfüllen sich dann selbst. Dann wird in unzulässiger Weise Macht ausgeübt, eine Versuchung,
der schon mancher Wahrsager erlegen ist. Also dürfen Vorhersagen konkreter Ereignisse vorher
nicht verstanden werden und müssen entsprechend vieldeutig formuliert sein, wenn man sich nicht
entschließen kann, sie für sich zu behalten.
Wenn Prophetie schon ein so heikles Gebiet ist, stellt sich umso nachdrücklicher die Frage nach
ihrem Sinn. Eine Antwort bietet Paulus im ersten Korintherbrief, Kapitel 14: Die prophetische
Rede sei ein „Zeichen für die Gläubigen“ (Vers 22), und sie diene den Gläubigen „zur Erbauung,
Ermahnung und Tröstung“ (Vers 3). Aus eigenem Vermögen kennt kein Mensch die Zukunft.
Wenn aber doch einer weissagen kann, muss ihm diese Fähigkeit von Gott verliehen sein.
Weissagungen sind also ein Zeichen dafür, dass Gott bei seiner Gemeinde ist und kann so
die Gläubigen erbauen, d.h. ihren Glauben stärken.
Meist geht es den Propheten darum, vor nahendem Unheil zu warnen und es dadurch womöglich
noch abzuwenden. Da haben sie allerdings in der heutigen Zeit schlechte Chancen. Denn man
kann nicht einfach wie Jeremia zu seinem König gehen und ihn warnen. Denn es gibt keine
Könige mehr; die herrschenden Mächte sind längst anonym geworden, verbergen sich in den
Mechanismen und Zwängen der wirtschaftlichen und technologischen Prozesse, die niemand
mehr wirklich steuern kann.
Die meisten Propheten behaupten, nicht im eigenen Namen, sondern auf Geheiß Gottes zu
sprechen. Sie sind sich aus dem eigenen Erleben gewiss, nur ein Werkzeug zu sein, dessen
sich Gott bedient. Auch N. beteuert das in den beiden Vorreden. Wie aber können die Ange-
sprochenen, selbst nicht Berufenen entscheiden, ob diese Behauptung zutrifft ? Woran erkennt
man einen wahren Propheten ? In der Bibel werden drei Kriterien genannt: 1) Es müsste deut-
lich sein, dass der Prophet den Willen Gottes verkündet. 2) Paulus zufolge müsste er sich zu
Jesus Christus als Gottessohn bekennen. 3) Es müsste etwas Vorhergesagtes auch schon
einmal eingetroffen sein.
Wahre Propheten des alten Bundes verkünden den Willen des Jahwe sich nennenden Gottes,
neben dem man keine anderen Götter haben soll. Betrügerische Propheten dagegen „betören
euch nur; sie verkünden Visionen, die aus dem eigenen Herzen stammen, nicht aus dem Mund
des Herrn. Immerzu sagen sie denen, die das Wort des Herrn verachten: Das Heil ist euch
sicher; und jedem, der dem Trieb seines Herzens folgt, versprechen sie: Kein Unheil kommt
über euch (Jeremia Kapitel 23, Vers 16 und 17). Falsche Propheten verkünden z.B. im Namen
der Wissenschaft technische Utopien, oder machen den Menschen weis, die Vernunft sei mehr
als nur ein Hilfsmittel, sich in der Welt zurechtzufinden, eine starke Kraft nämlich, deren Einsatz
den Menschen befähige, aus eigenem Vermögen eine gerechte Gesellschaft und Frieden auf
Erden zu schaffen.
Bei wahren Propheten wird immer deutlich, dass es die Abwendung von Gott ist, in dem alles
Unheil letztlich wurzelt. Was sie sagen über das Abweichen des Volkes von dem Weg, den
der Himmel markiert hat, macht er an den drohenden Folgen deutlich. Seine Voraussagen
sind die Konsequenz aus seiner Diagnose der zunehmenden Entfernung der Menschen von
Gott. Als Grund künftigen Unheils nennt N. neben dem Verfall der Kirche, dessen Gründe z.T.
auch deutlich werden, die Vertreibung der Herrscher, von welcher sich die Völker die Freiheit
erhoffen, die sie aber in Wahrheit in die Unfreiheit führe, VH (21).
„Daran sollt ihr den Geist Gottes erkennen: Ein jeder Geist, der bekennt, dass Jesus Christus
in das Fleisch gekommen ist, der ist von Gott; und ein jeder Geist, der Jesus nicht bekennt,
der ist nicht von Gott“ (1. Brief des Johannes, Kapitel 4 Vers 3 und 4 [Einheitsübersetzung]).
Christen werden diesem Satz dem Grunde nach zustimmen, sich aber auch darüber klar sein,
dass ein Bekenntnis in dieser Form leicht ein Lippenbekenntnis sein kann. Man wird nicht
umhinkommen, darauf zu lauschen, wes Geistes Kind einer ist, der sich anheischig macht,
Seher oder Prophet zu sein.
Neben dem Schicksal seines Heimatlandes ist es vor allem das Schicksal der christlichen
Religion, vornehmlich ihrer Behausung in der katholischen Kirche, welches Nostradamus am
Herzen liegt. Das wird schon in den historischen Kapiteln deutlich, besonders in denen über
die französische Revolution und den aus ihr hervorgegangenen Napoleon. Noch deutlicher
wird das in der Vorschau, da hier die Entwicklung so auf die Spitze getrieben erscheint, dass
man es beim ersten Lesen nicht glauben mag. Dieses mit Bedauern und Erschrecken einher-
gehende Interesse des provenzalischen Sehers am Verfall und an den Bedrängnissen des
christlichen Glaubens ist für den Schreiber dieser Zeilen der deutlichste und sicherste Erweis
dessen, dass Nostradamus kein fascher Prophet ist.
„An der Erfüllung des prophetischen Wortes erkennt man den Propheten, den der Herr wirklich
gesandt hat“ (Jeremia Kapitel 28 Vers 9). „Wenn ein Prophet im Namen des Herrn spricht und
sein Wort sich nicht erfüllt und nicht eintrifft, dann ist es ein Wort, das nicht der Herr gesprochen
hat. Der Prophet hat sich nur angemaßt, es zu sprechen“ (5. Buch des Mose Kapitel 18 Vers 22).
Gibt es also bei N. erfüllte Prophezeiungen, die klar eingetroffen sind ? In der Vorrede an Hein-
rich II. gibt es im Abschnitt (34) eine Stelle, wo es im Zusammenhang mit einer „Verfolgung der
Kirche“ heißt, dass man im „Jahr 1792 glauben werde, es gebe eine Erneuerung des Zeitalters“.
Nun ist in modernen Zeiten die Rede von neuen Zeiten oder neuen Ären, etwa aufgrund techni-
scher Innovationen, nahezu alltäglich geworden. Das gilt auch im Bereich von Politik und Ideo-
logie; fast jeder neue amerikanische Präsident ruft ein New Age aus.
Doch zu Zeiten des Sehers gibt es noch keine Inflation neuer Ären und neuer Zeitalter; das
Zeitalter, das mit der Inkarnation des Gottessohnes einsetzt, beherrscht unangefochten das
Terrain; denn auch die protestantischen Reformchristen seiner Zeit wollen daran nichts ändern.
Wenn N. im Kontext einer Kirchenverfolgung sagt, dass man an ein neues Zeitalter glauben
werde, dann ist klar,
· dass ein anderer als der christliche Glaube sich geltend macht und vordrängt
· dass die christliche Zeit verlassen werden und ein neues Zeitalter an seine Stelle treten soll.
Die erwähnte Stelle in der Vorrede ist deshalb frappierend, weil der aus der Revolution in Frank-
reich hervorgegangene Nationalkonvent im Jahr 1793 tatsächlich beschließt, rückwirkend ab dem
22.9.1792 eine neue Zeitrechnung einzuführen. Man will tatsächlich die christlich geprägte Ära
hinter sich lassen. Der neue Kalender kann sich immerhin zwölf Jahre halten. Wenn man sich
überlegt, wie selten neue Zeitrechnungen eingeführt werden, dann ist die Wahrscheinlichkeit
eines Zufallstreffers hier mit unter einem Prozent, wenn nicht unter einem Promille anzusetzen.
Aus einem solchen Einzelbeispiel weitreichende Schlüsse zu ziehen, wäre sicher voreilig.
Man wird zu Recht nach weiteren erfüllten Vorhersagen fragen. Im folgenden werden einmal
jene Verse zusammengestellt, die sowohl in den historischen Kapiteln der hier gegebenen
Kommentierung wie auch bei J.-C. Pfändler (Nostradamus, Seine Prophezeiungen, Die Ur-
texte, Chieming 1996) in gleicher Weise erklärt werden. Zugegeben, die Übereinstimmung
zweier Kommentatoren bietet keine Gewähr dafür, dass Deutungen zutreffen - und das wäre
nicht anders, wenn man mehr Autoren hinzunähme. Denn letztlich ist die Frage nach der
Wahrheit in Sachen Prophetie - wie in religiösen Fragen überhaupt - keine für Experten
oder für Abstimmungen, sondern kann nur von einem jedem für sich selbst auf der Grundlage
seines Empfindens und seiner Erfahrungen beantwortet werden. Dennoch mag es von
Interesse sein, wenn zwei Kommentatoren, die sich gründlich mit der Materie befasst haben
und öfter zu unterschiedlichen als zu gleichen Ergebnissen kommen, manchmal doch über-
einstimmen.
Es sind gerade einmal 31 Verse, die im hier gegebenen Kommentar gleich oder fast gleich
wie bei J.-C. Pfändler erklärt werden; das sind 3,1 % von den tausend Versen, auf die man
kommt, wenn man die Sechszeiler hinzurechnet - also eine kleine Schnittmenge.
Im einzelnen sind es
· Vers 10/39 im Kapitel 4 über Franz II./Karl IX. und den Beginn der Religionskriege in F
· die Verse 2/51, 2/53, 8/76 und 9/11 im Kapitel 8 über Cromwells Revolution
· Vers 4/89 im Kapitel 9 über Britanniens >glorreiche Revolution<
· Vers 8/68 im Kapitel 10 über Ludwig XIII. und Ludwig XIV.
· Vers 4/2 im Kapitel 12 über den spanischen Erbfolgekrieg
· die Verse 1/44, 2/10 und 7/14 im Kapitel 15 über die Neuerungen der franz. Revolution
· die Verse 1/3, 1/61 und 5/33 im Kapitel über Bürgerkrieg und Emigration 1789ff.
· die Verse 1/57 und 9/77 im Kapitel 17 über d. Schicksal des XVI. Ludwig u. seiner Familie
· die Verse 1/60, 1/76 und 8/57 im Kapitel 19 über Herkunft und Karriere Napoleons
· die Verse 1/88, 2/99 und 10/34 im Kapitel 24 über den Untergang des Empire
· Vers 10/90 im Kapitel 27 über die Restauration, Ludwig XVIII. und Louis-Philippe
· Vers 10/51 im Kapitel 30 über Kaiser Napoleon III. und den deutsch-französischen Krieg
· Vers 3/58 im Kapitel 32 über Hitlers Herkunft und sein Regime
· Vers 9/78 im Kapitel 33 über den spanischen Bürgerkrieg
· Vers 3/57 im Kapitel 34 über den Ausbruch des zweiten Weltkrieges
· Vers 2/24 im Kapitel 39 über den Holocaust
· Vers 10/100 im Kapitel 40 über die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg
· Vers 1/70 im Kapitel 42 über den Wiederaufstieg des Islam.
Im Vers 9/77 erkennt Pfändler zutreffend in der >Hure< die französische Republik; eigentlich ist
es das französische Volk in republikanischer Verfassung, das sich N. zufolge von seinem wahren
Herrn abwendet und >mit jedem geht, der ihm hohen Lohn verspricht<; damit ist hier ein Einstieg
in die Metaphorik von Ehe und Ehebruch gegeben, die das Glossar unter -> dame und -> mariage
erklärt. In Vers 1/4 [VIII], der oben nicht dabei ist, erkennt Pfändler ohne Begründung, aber
zutreffend im >Fischerboot< die katholische Kirche; hier haben wir den Einstieg in die Schiffs-
und Meeresmetaphorik des Sehers, die das Glossar unter -> nef und -> mer entfaltet.
Es gibt nicht wenige >Experten< für Nostradamus, die sich mit dieser Benennung eine unbegrün-
dete Autorität anmaßen. Es gibt aber keine autoritativen Aussagen auf dem Gebiet der Prophetie,
die für alle verbindlich wären. Jeder, der sich da Experte nennt oder nennen lässt, disqualifiziert
sich damit selbst als Egomane. So kann auch hier kein Wahrheitsanspruch erhoben werden
in dem Sinne
· dass die Zuordnungen von Texten zu historischen Ereignissen unbedingt zutreffen,
· dass die gewonnenen Prognosen unbedingt eintreffen müssten und kein Zweifel
daran erlaubt sei - letzteres schon deshalb nicht, weil für uns die Zukunft wegen
unserer Willensfreiheit prinzipiell nicht feststeht.
Wenn hier ein Anspruch erhoben wird, dann der, dass die Deutungen ohne Voreingenommen-
heit gegenüber Personen, Völkern oder Institutionen gewonnen wurden, und dass die darin
enthaltenen Werturteile des Sehers kenntlich gemacht wurden. So kann ein moderner Leser
die Färbung, die die Dinge durch die >Brille< des Sehers annehmen, gewissermaßen >heraus
rechnen< und sie so betrachten, wie er selbst sie gesehen hätte. Ein jeder, der sich mit
Prophetie beschäftigt, muss sich sein eigenes Urteil bilden. Dazu soll der Leser befähigt werden,
nicht mehr und nicht weniger.
Der Leser wird Aufklärung darüber erwarten, wie hier bei der Deutung vorgegangen wird.
Es gibt einige Merkmale des Vorgehens: 1) >Auslegung< 2) >Archäologische< Rekonstruktion
3) Heranziehung der biblischen Apokalyptik 4) Nutzung des biblischen wie außerbiblischen
Fundus an Mythen, Symbolen usw.
Im Bild des Auslegens ist enthalten, dass die Deutung von einigermaßen sicherem Terrain,
definiert durch die oben unter (10) aufgeführten erfüllten Textstellen, fortschreitet zu den noch
freien Stellen, etwa so, wie es der Löser eines Kreuzworträtsels macht. Nur sind im Kreuzwort-
rätsel die Wörter zweidimensional durch Buchstaben, in den Texten des N. dagegen mehrdimen-
sional durch ihre Bedeutungen verknüpft.
Beispiel: Im Kommentar zu Vers 4/96 (Kap.9) heißt das britische Königreich von 1689
„Reich des Gleichgewichts“ (regne de balance), weil durch eine Verfassungsänderung
ein Ausgleich zwischen Königs- und Parlamentsherrschaft zustande kommt. Die Herr-
schaft ist in Britannien fortan gleichermaßen >von oben<, durch den Monarchen von
Gottes Gnaden, wie auch >von unten<, d.h. durch ein von Menschen bestelltes Parla-
ment legitimiert. Darauf gestützt, kann der Begriff der „Waage“ (Libra), den N. im
gleichen Sinn wie die -> balance benutzt, in Vers 4/50 (Kap.41) als Allgemeinbegriff
für die konstitutionelle Monarchie gedeutet werden, die den Fürsten von Gottes Gnaden
an eine von Menschen gemachte Verfassung bindet und sich im neunzehnten Jahrhun-
dert durchsetzt.
Auf dieser Basis wird „Libra“ in Vers 2/81 [II] zum Kennzeichen einer globalen Ordnung, die nach
dem Kataklysmus entsteht. Sie wird beanspruchen, das Gottesreich auf Erden zu verwirklichen,
sich aber auch eine Legitimation durch die Menschen, d.h. durch Wahlen verschaffen, 8/41 [III].
Die Verteilung der Visionen auf eine Unzahl von Versen entspricht einer in tausend Splitter zer-
borstenen antiken Vase, die erst mühsam wieder zusammengesetzt werden muss, wenn ihre
einstige Gestalt wiedererstehen soll. Es werden die auf der Außenseite eingebrannten Fragmente
von bildlichen Darstellungen sein, die dabei entscheidende Hinweise geben. Wer einmal ein
Puzzle zusammengesetzt hat, weiß, was gemeint ist.
Im Fall der Zenturien muss zunächst das Wortmaterial aufgenommen werden, ob nun auf dem
PC oder herkömmlich mit einem Zettelkasten. Dann beginnt man mit Übersichten zu einzelnen
Wörtern, z.B. werden alle Textpassagen zum Wort sang Blut zusammengestellt. Dann geht es
weiter mit Übersichten inhaltlich verwandter Wörter, z.B. cave/cercueil/sepulchre/tombe/
tombeau Keller/Höhle/ Sarg/Grab/Grabmal. Weiter werden Konkordanzen zu Themen ange-
fertigt, z.B. alle Verse nebeneinander gestellt und verglichen, die das Thema Verlobung, Heirat
und Ehe berühren. Auf diese Weise kann man in die Semantik der Centurien eindringen.
Woher aber sollte man wissen, was aus dem Sprachmaterial der Verse entstehen soll ?
Was entspricht in diesem Fall den Darstellungen auf der Oberfläche der zerbrochenen Vase,
woher das Bild nehmen, das die richtig zusammengesetzten Puzzleteile ergeben ? Genau
genommen ist es logisch nicht möglich, ein Puzzle zusammenzusetzen, dessen Bild nicht
vorgegeben ist, sondern erst während des Zusammensetzens entsteht. Das wäre so, als
wollte man sich selbst aus einem Sumpf ziehen. Da ist dann auch die Gefahr nicht weit,
bei sich selbst, in der eigenen Seele nach Motiven oder Lieblingsideen zu suchen, die man
gern wiederfinden würde. Ganz ohne eine v o r der Deutung schon vorhandene Skizze
kommt man also nicht aus.
N. ist der Ansicht, dass ihm seine Einblicke vom Heiligen Geist eingegeben wurden, dass
er also wie die biblischen Propheten vom Heiligen Geist inspiriert wurde, VH (11). Daher
ist es nicht abwegig, bei der Deutung der Zenturien vorauszusetzen, dass sich dort zentrale
Motive der biblischen Apokalyptik wiederfinden müssten. Die Deutungsarbeit bestätigt es
dann, dass sich namentlich die Wiederkunft Christi und die vorherige Erscheinung des
Antichristen (-> Antechrist), der mehrfach in den Paulusbriefen sowie sinngemäß in der
Offenbarung des Johannes begegnet, bei Nostradamus wiederfinden. Hinzu kommt die
Idee des Endkampfes dieser beiden Mächte, der im 13. und 14. Kapitel des letzten Buches
der Bibel in grandiosen Bildern verhüllt ist.
Von der apokalyptischen Büchern der Bibel abgesehen, wird es hier aber durchgängig
vermieden, die Aufzeichnungen anderer Paragnosten (Hellseher) für die Deutung der
Zenturien heran zu ziehen. Es gibt in der Literatur schon genügend >Gemischtwarenläden<,
hier wird kein weiterer eröffnet. Auf der anderen Seite soll nicht verschwiegen werden,
dass die Kenntnis modernerer, später aufgetretener Propheten die Deutung der Zenturien
erleichtert hat. Hier sind zu nennen Jakob Lorber (* 1800, gest. 1864), der ein umfang-
reiches Werk hinterlassen hat, und die Kundgaben der Bertha Dudde (*1891, gest. 1965),
die schriftlich vorliegen und abrufbar sind unter www.bertha-dudde.info.
Die verhüllten Enthüllungen der Bibel von der Wiederkunft Christi und der Erscheinung des
Antichristen sind zentral, würden aber für das Verständnis der Zenturien nicht ausreichen.
Zu Lebzeiten des Sehers hat das Abendland herbstlich bunte Farben angenommen, und so
lieben es die Gebildeten damals, virtuos auf der Klaviatur der ererbten Symbole zu spielen.
N. hat seine Verse mit Anspielungen auf Gestalten des antiken Mythos und der Geschichte,
mit Symbolen und Allegorien reich gespickt. In manchen Passagen verdichtet sich sein Stil
zu einer Symbol-Algebra, die dem Leser einiges abverlangt, z.B. in den Versen 4/28 bis 4/30.
Es gilt dann herauszufinden, welches Merkmal des metaphorisch benutzten alten Namens es
jeweils ist, auf das angespielt wird. Anders gesagt, die Hinsicht des Vergleichs (vornehm: das
tertium comparationis) ist zu ermitteln aus den Zusammenhängen, in denen die Metapher an
ihren Fundstellen jeweils steht.
Beispiel: Der mehrfach vorkommende Merkur war Sohn des höchsten Gottes, Bote
der Götter, Gott der Herden und Hirten, schützte die Reisenden und noch einiges mehr.
Die Aussagen des Verses 9/12 [X] lassen im Kontext erkennen, dass dieser alte Götter-
name dem Seher als Deckname für Jesus Christus dient.
N. hat es nicht bei der Benutzung bekannter Symbole und Metaphern belassen, sondern hat,
wohl auch aus Freude an der Verdunklung, gelegentlich selbst neue Symbole erschaffen.
So kann z.B. die >toskanische Sprache< im Verskontext zur Metapher für die Rede derer
werden, sich für die Einigung Italiens einsetzen, 7/20 (Kap.29), weil im Zuge dieser Einigung
der zentralitalienische Dialekt, das gesprochene Florentinisch, als Schriftsprache verbindlich
wird. Auch geographische Namen von Städten, Flüssen und Ländern schienen N. geeignet,
sie mit einer symbolischen Bedeutung aufzuladen. So ist z.B. Frankfurt der Ort, an dem seit
dem 12. Jahrhundert die Kaiser gewählt werden; daher kann >Frankfurt< allegorisch für diese
Institution des Reichs, für den Kaiser also stehen. Frankreich ist das Land der Revolution,
an die sich große Hoffnungen auf eine bessere Zukunft knüpfen; so wird >Frankreich< im
Sechszeiler 48 zum Ort der großen, leeren Heilsversprechen. Weitere Beispiele finden sich
im Exkurs (9).
Man kann gegen die hier gewählte Vorgehensweise bei der Deutung der Zenturien einwenden,
es werde aus den verschiedenen Übersetzungs- und Deutungsmöglichkeiten willkürlich ausge-
wählt. Ein methodisches Vorgehen, das diesen Namen verdiene, sei nicht erkennbar, eine
Überprüfung der Ergebnisse daher unmöglich. Nur die Willkür habe Methode, indem schon
bei der Übersetzung alles so hingebogen werde, dass es zur dann vorgeschlagenen Deutung
passe.
Aber der Vorwurf der Willkür bei der Übersetzung ist unberechtigt. Der Rahmen der möglichen
Wortbedeutungen wird nirgendwo verlassen, die bevorzugte Möglichkeit in besonders schwierigen
Fällen en detail abgeleitet. Von willkürlichem Zurechtbiegen könnte man ja nur sprechen, wenn
lexikalisch nicht nachweisbare Wortbedeutungen ohne nähere Begründung gewählt würden.
Wer die Übersetzung überprüfen will, kann sich dazu auch auf die Anmerkungen stützen, die
jeweils anschließend gebracht werden und sich so davon überzeugen, dass hier keine Willkür
waltet.
Die gefundenen Deutungen wurden weder methodisch noch willkürlich gewonnen. N. schrieb
aus seiner Erkenntnis der wirkenden Ideen sowie aus der Anschauung des Wesens und Beweg-
grundes der Akteure. Die Deutung entsteht aus dem Nachvollzug der auf das Gefüge des Ganzen
gehenden Schau. Sie gründet im Sich-Einlassen auf die Visionen und deren Deutung durch den
Seher vor dem Hintergrund seines christlich geprägten Weltbildes. Das Kriterium für die Güte
einer Deutung ist ihre Schlüssigkeit im Gesamtkontext der Vorschau und ihre Übereinstimmung
mit den Werturteilen und Anschauungen des Sehers, wie sie in der Vorrede an Heinrich II. und
in den historischen Kapiteln herausgearbeitet werden.
Die vorliegende Deutung sei ganz einseitig auf den Bereich der Religion und des Glaubens
ausgerichtet. Bei einem so vielseitig interessierten und gebildeten Mann wie Nostradamus
sei es unwahrscheinlich, dass er von wenigen Gegenständen wie vom Schicksal der katholi-
schen Kirche oder von drei Herrschern, die nacheinander auftreten und von ihm als anti-
christlich erkannt werden, in so vielen Versen unter so vielen Decknamen und Verschleierun-
gen handle, wie es die hier gegebene Deutung nahelegen will.
Auch dieser Einwand geht fehl. Bei einem wirklich von Gott berufenen Seher oder Propheten
wird immer auch und gerade das religiöse Motiv und seine Perspektive erkennbar sein.
So wird man Nostradamus das Recht einräumen müssen, mit besonderer Anteilnahme das
Schicksal seiner Kirche und der Bedrängnisse, in die sie geraten würde, zu verfolgen.
Man wird ihm auch nicht verwehren können, besonderes Interesse an einem Mann zu nehmen,
der auf die Menschen eine starke Faszination ausüben wird, weil das Böse überall und allzeit
eine Faszination ausübt, wenn es sich als Heilsbringer getarnt aus der Deckung traut und
dabei von seiner sehr reichhaltigen Garderobe Gebrauch macht.
Da Nostradamus beanspruchte, im Namen des Gottes der Christen zu weissagen, können sich
die Kirchen als zuständig für seine Prophetie betrachten. Die katholische Kirche hat die
Zenturien 1781, acht Jahre vor der französischen Revolution, auf den Index der verbotenen
Bücher gesetzt. Die Indizierungen wurden für die Öffentlichkeit fast nie begründet, aber die
in dem Verbot enthaltene Aussage der kirchlichen Autorität war, dass Nostradamus ein Schar-
latan oder ein falscher Prophet sei. Der genannte Index ist aber nun seit März 1967 außer
Kraft gesetzt. Einen formellen Verstoß gegen den Kirchengehorsam bildet die Beschäftigung
mit seinen Schriften also nicht mehr.
Man könnte allerdings meinen, die Tendenz seiner Prophetie sei kirchenfeindlich, da er, wie
aus der hier gegebenen Vorschau klar ersichtlich, den Kirchen den Untergang prophezeit.
Aber bei näherem Hinsehen erweist sich diese Meinung als falsch. Denn N. spricht vom
Untergang der Kirchen nicht im Ton des Triumphes, sondern mit warnendem Gestus und
mit Erschrecken, deutlich z.B. in Vers 10/65 [XI]. Dennoch - mögen Kleriker einwenden -
verunsichere er die Menschen mit seiner düsteren Prophetie in ohnehin schon unsicheren
Zeiten. Da suchten die Menschen Halt und Trost auch und gerade bei der Kirche und müssten
ihn dort auch finden. Dagegen ist nichts zu sagen, es setzt aber voraus, dass die Kirchen
weiter bestehen. Es fragt sich dann, ob es möglich ist, den Untergang dadurch zu vermeiden,
dass man davon nichts wissen will. Das Verbot der Zenturien hat die Niederlagen der Kirche
in den Jahren 1789ff. nicht verhindern können. Man kann auch die Möglichkeit des Untergangs
gänzlich verneinen, z.B. weil Gott das nicht zulassen werde oder weil es die Kirchen schon so
lange gebe. Aber was Gott zulässt und warum, übersehen wir nicht und müssen es ihm über-
lassen. Und zum hohen Alter sei an sehr alte Bäume erinnert, die dennoch irgendwann sterben
müssen, damit neues Leben an ihrer Stelle wachsen kann. Außerdem gibt es keine Auferstehung
ohne vorherigen Tod. Nicht, dass der Untergang von vornherein die Wahrheit auf seiner Seite
habe und unfehlbar eintreten müsse, wird hier behauptet. Aber wenn durch das immens
wachsende Ansehen der Kirchen nach Krieg und Kataklysmus die alte Warnung überhört wird
von den Oberen des Klerus, könnte sich gerade deshalb die alte Weissagung erfüllen. Nicht
die Warner sind in Wahrheit die Gegner der Kirche, sondern jene Kleriker, die sich allzu eng
an die Mächtigen der Welt binden.
Die Vorschau ist in fünfzehn Rubriken aufgeteilt, während die bereits erfüllten Verse sich auf 42
Kapitel verteilen. Daran wird schon deutlich, dass in der Vorschau nur einige Grundlinien der
Entwicklung aufgezeigt werden. Es wird kein >Geschichtsbuch ex ante<, also keine Vorschau
mit Angabe von Ort und Zeit einzelner Ereignisse geboten. Wer das bieten könnte, dürfte es
nicht tun, denn er würde die Freiheit der Menschen beschädigen. Es würden Ereignisse
deshalb eintreten, weil sie vorhergesagt sind und der Vorhersage Glauben geschenkt wird.
Vorhersagen von Untaten könnten Übeltätern dazu dienen, ihre Untaten damit zu >rechtfertigen<,
dass sie von Gott oder der Vorsehung gebilligt seien; das kann nicht Sinn und Zweck von
Weissagungen sein.
Wie die historischen Kapitel zeigen, erfasst N. wesentliche Züge des Geschehens, die auch
in der Geschichtsbetrachtung der Nachgeborenen als wesentlich erachtet werden. Als Beispiel
sei der Wandel der Beurteilung Hitlers durch die deutschen Zeitgenossen genannt, der an einer
Stelle sehr prägnant formuliert ist, 9/17 Vz 4 (Kap.39). Die Vorgänge werden summarisch
umrissen, und nur gelegentlich kommen echte Details zum Vorschein wie in Vers 9/76 Vz 3
(Kap.38), der vom Attentat auf Hitler am 20.7.1944 handelt. Solche Details sind aber vor Ein-
treten der Ereignisse kaum verständlich.
Die Vorschau umreißt das Geschehen nur in den wesentlichsten Zügen. Vereinzelte Details
findet nur, wer sich mit den Übersichten der Vorschau-Kapitel nicht zufriedengibt und in die
kommentierten Texte selbst einsteigt. Bei den bevorstehenden kriegerischen Ereignissen gibt
es solche Details nicht, und wenn es sie gäbe, wären sie nicht aufgenommen worden. Was
die Naturereignisse angeht, so konnten auch sie aufgenommen werden, weil der Vorwurf,
dass die Prophezeiungen sich selbst erfüllen, bei ihnen ins Leere geht. Denn es ist nicht zu
befürchten, dass ein irregulärer Himmelskörper in die Nähe der Erde kommt, weil er irgendwem
etwas geglaubt hat. Seine Ankündigung durch Seher und Propheten ist ein klares Argument für
seine zutreffende Beurteilung als Eingriff des Schöpfers in das irdische Geschehen, das den
Menschen völlig aus dem Ruder läuft. Drauf und dran, die Welt unbewohnbar zu machen,
wird dem Menschen dies doch verwehrt.
Dass mit seinen Weissagungen auch Unfug getrieben uns Schaden angerichtet werden kann,
wusste N. nur zu gut, weil er selbst dieser Gefahr ausgesetzt war, wie später jeder, der sich
mit seinen Texten beschäftigt. Daher findet sich bei ihm folgender Bannspruch (am Ende der
6. Zenturie):
Legis cantio contra ineptos criticos Des Gesetzes Bann gegen törichte Kritiker
Qui legent hosce versus, mature censunto Wer diese Verse liest, prüfe sie reiflich.
Profanum vulgus et inscium ne attrectato: Heilloses und unwissendes Volk möge wegbleiben.
Omnesque Astrologes, Blenni, Barbari Alle Astrologen, Dummköpfe, Barbaren sollen sich
procul sunto, fernhalten.
Qui aliter facit, is rite sacer esto. Wer das nicht beachtet, sei regelrecht verflucht.
Lat. cantio bedeutet eigentlich Zauberspruch, und „das Gesetz“ ist mittellateinisch das Alte
Testament. In der Haltung dessen, der Gottes Gesetz vertritt, wie ein zorniger biblischer
Prophet will N. hier „törichte Kritiker“ verscheuchen, zu denen auch „unwissendes Volk“
gehört. Vom hochfahrenden Gestus abgesehen, wird man ihm in dem Punkt recht geben
müssen. Ohne Geschichts- und Sprachkenntnisse hat man keine Chance.
Dann geht es gegen die „Barbaren“. So nennt N. all jene >heillosen Ungläubigen<, die sich
nicht zum katholischen Glauben und zur römischen Kirche bekennen. Die Zugehörigkeit zur
katholischen Kirche allein wird allerdings wohl niemandem helfen, aus den Zenturien einen
Nutzen zu ziehen. Im übrigen werden auch Menschen, die an Christus nicht glauben, die
vorliegende Deutung verstehen können. Ob sie aber jemandem hilft, kann nur jeder selbst
beurteilen, sei er nun >katholisch oder ungläubig<.
Fernhalten sollen sich N. zufolge auch Astrologen, die als besondere Erscheinungsform der
Dummköpfe und Barbaren verwundern mögen, da N. selbst auch astrologisch tätig war.
Allerdings hat er seine astrologische Tätigkeit mit seiner Sehergabe und deren schriftlichen
Niederschlag nicht vermengt, VH (7). Er kann also nur die unfähigen oder betrügerischen
Vertreter dieses Berufsstandes gemeint haben. Daher braucht sich niemand angesprochen
zu fühlen. Und die Verfluchung, die Nostradamus am Schluss ausspricht, erscheint als hilflose
Drohung angesichts der Wehrlosigkeit nach seinem Ableben. Ein Fluch kann nur Abergläubi-
sche einschüchtern.
Einer Stelle in der Vorrede an César N. zufolge reichen die Weissagungen „von jetzt [1555]
an bis zum Jahr 3797“. Wenn damit die christliche Zeitrechnung gemeint ist, würden sich die
Zenturien auf einen Zeitraum von 2242 Jahren beziehen. Es scheint, als wären dem Seher
auch Einblicke in eine fernere Zukunft gewährt worden, s. Abschnitt [XV] der Vorschau.
Doch andernorts heißt es, dass nach 500 Jahren, also um das Jahr 2055, „plötzlich große
Klarheit“ über seine Texte herrschen werde, 3/94 [XV]. B i s h e r herrschte Klarheit über
die Verse frühestens dann, wenn sie in Erfüllung gegangen waren. Nimmt man an, dass
sich daran nichts ändern werde, müsste der größte Teil der Verse bis 2055 erfüllt sein,
widrigenfalls es die angesagte „große Klarheit“ schwerlich würde geben können.
Die Jahrzehnte und Jahrhunderte werden im Übrigen ja nicht gleichmäßig bedacht. Ereignis-
reichen Zeiten wie den Jahren 1789 bis 1815 sind mehr Verse gewidmet als ruhigeren Zeiten.
Es ist also möglich, dass ein großer Teil der Verse von Ereignissen handelt, die sich auf wenige
Jahrzehnte zusammendrängen. Nostradamus dachte >vom Ende her<, dem Ende der gewor-
denen Formen auf politischem und religiösen Gebiet und ist daher zu Recht als Untergangs-
prophet bekannt geworden. Für die Nähe dieses Endes sei hier auf Vers 2/28 (Kap.41) hin-
gewiesen, der davon ein klares Zeugnis gibt.
Wer die Zenturien auf ferne Zeiten verschieben will, nimmt der Prophetie die Dringlichkeit, die
sie heute hat. Er macht aus ihnen ein unverbindliches Rätsel, eine Spielwiese für intellektuelle
Spekulation. Er reiht sich ein in die Front derer, die die Wahrheit des Untergangs abwehren
und damit den falschen Propheten das Feld überlassen, die den Menschen versprechen, sie
seien bald reif, das Himmelreich auf Erden zu errichten. Wer vom Untergang spricht, wird
immer sehr schnell verdächtigt, seine >Panikmache< trage selbst ganz wesentlich dazu bei,
dass die Menschen das Vertrauen in die Entwicklung verlören und so der Boden für katastro-
phale Ereignisse bereitet werde. Aber das ist ein Argument der Börsenspekulanten und aller
verwandten Seelen, die an sich selbst, aber nicht an der Wahrheit interessiert sind und sich
daher von Weissagungen fernhalten sollten, weil diese nicht für sie gemacht sind.
Es wurden folgende Textausgaben verwendet
· Nostradamus, Les Propheties. Lyon 1555. la 1ère edition enfin retrouvée, Roanne (Loire),
1984
· Nostradamus, Les Propheties de maistre Michel Nostradamus, Bildgetreuer, vergrößerter
Abdruck der bei Benoit Rigaud, Lyon 1568, erschienenen Ausgabe, Frankfurt/Main 1940
· Nostradamus, Les Propheties, Pierre Chevillot, Troyes 1611, Wiederabdruck Nice 1981
(hier sind die Sechszeiler mit enthalten)
· Zuverlässige Originaltexte, die sogar durchgängig Abbildungen der Originale enthalten,
finden sichunter www.nostradamus-bibliothek.de .
Es gibt unübersehbar viele Seiten im Netz sowie Sekundärliteratur zu Nostradamus; fast nichts
davon kann empfohlen werden. Ausnahmen sind
· Allgeier, Kurt, Die Prophezeiungen des Nostradamus, Erstmals vollständig übersetzt,
kommentiert und neu gedeutet, Heyne.Verlag, München 1988. Allgeier übersetzt die
beiden Vorreden sowie dieVierzeiler komplett, sammelt und prüft in der Literatur ange-
botene Deutungen und fügt eigene Deutungen hinzu. Muss kritisch gelesen werden,
ist aber als erster Einstieg geeignet und antiquarisch günstig zu bekommen, z.B.
unter www.zvab.com.
· Carius, Christoph, Nostradamus Band 1, Erfüllte Prophezeiungen, Nostradamus Band 2,
Vom Schicksal der christlichen Religion, Endymion Verlag 2000 (Band 1) und 2002
(Band 2). Diese Bücher sind vom selben Autor wie der hier ins Netz gestellte Kommentar.
Die eigenwillige Anordnung der Texte und der Preis erschweren den Zugang; sind etwas
umfangreicher als die Auswahl auf dieser Webseite, aber zum Teil nicht mehr auf dem
neuesten Stand.
· Pfändler, Jean-Claude, Seine Prophezeiungen, Die Urtexte, neu übersetzt und kommentiert,
Laredo Verlag, Chieming 1996. Pfändler bietet einen zuverlässigen Text, eine möglichst
wörtliche Übertragung und vorsichtige, von Spekulationen sich fernhaltende Kommentare.
Auf ein breites, solides Fundament kann man bauen, aber man kann noch nicht darin
wohnen. Dem Forschenden wird viel geboten; wer mit Prognosen bedient werden möchte,
geht praktisch leer aus.
· Pfändler, Jean-Claude, Der mißverstandene Nostradamus, Populäre Irrtümer über die
berühmtesten Prophezeiungen der Welt, Laredo Verlag, Chieming 1999. Der Autor will
aufklären und sieht Vieles ganz richtig. Manche Einzelfrage wird anders beurteilt als hier;
das schmale Bändchen kann daher Lesern empfohlen werden, die in die Problematik der
Deutung einsteigen und sich eigene Urteile bilden wollen.
· Scheck, Frank Rainer, Nostradamus, dtv 1999. Scheck stellt die Centurien in den histori-
schen Kontext der Entstehungszeit - einer Zeit des Umbruchs und des Zerfalls der alten
religiösen und weltanschaulichen Gewissheiten. Er bietet ein detailreiches, lebendiges Bild
der Persönlichkeit des Sehers, seines Lebens und seiner Zeit. Er glaubt nicht an die
prophetische Begabung des Nostradamus, sondern hält die Vorhersagen für eine unge-
wöhnliche Form der Bewältigung von Ängsten und Aggressionen, die aus den Angriffen
auf den alten Glauben resultieren.
Mit der in Klammern gesetzten Jahreszahl am Ende des Verstextes wird die Herkunft des Textes
aus der Ausgabe von Macé Bonhomme (1555) oder der Ausgabe von Benoist Rigaud (1568)
bezeichnet. Mit einem in Klammern gesetzten Ausrufezeichen (!) wird eine bedeutsame Ab-
weichung dieses Urtextes von späteren Ausgaben kenntlich gemacht. Zitate werden mit normalen
Anführungszeichen („…“) kenntlich gemacht. Mit der Anführung durch >…< sind Ausdrücke
und Aussagen versehen,
· die nicht wörtlich, sondern sinnbildlich zu verstehen sind oder
· die Wertungen oder Anschauungen enthalten, die der Kommentator nicht übernehmen will.
Herausragende Beispiele für Wertungen und Anschauungen, die der Kommentator nicht teilt,
finden sich in der Vorschau. Dort ist in [III] und [VIII] von einem >wiedergekommenen Heiland<
die Rede, eine Bezeichnung, die die Wertung und Anschauung der zukünftigen Zeitgenossen
reflektiert. In diesem Mann erkennt N. den - nach Napoleon und Hitler - dritten Antichristen
(-> Antechrist); der Kommentator teilt diese Einschätzung und muss daher zur Wertung der
Zeitgenossen auf Distanz gehen. Gleiches gilt für die >Weltfriedensordnung<, [VII], die die
Zeitgenossen nach dem Kataklysmus [II] errichten wollen, ohne sich darüber Rechenschaft
zu geben, dass ein wirklicher Frieden nicht politisch erzwungen werden kann, sondern fried-
volle Menschen voraussetzt. Diese scheinbare Friedensordnung erweist sich am Ende als
instabil, weil sie offen totalitär wird, die alten Religionen verbietet und sich damit als Friedens-
ordnung disqualifiziert.