Suche 

        Kapitel 31  Erster Weltkrieg, Ende des osmanischen Reiches,
       
                                                    Aufstieg des Kommunismus

Ursachen des Krieges liegen in der imperialistischen Politik der

beteiligten Mächte mit dem entsprechenden Wettrüsten.  Zum histo-

risch Unbereinigten gehört das französische Empfinden der Schmach

über die Niederlage von 1870/71, das durch Gebietsabtretungen

wachgehalten wird, 6/22 (Kap.30).   

D a s s  N. den ersten Weltkrieg gesehen hat, ist belegt durch eine

Stelle in der Vorrede an Heinrich Abschnitt (19), wo von diesem

Krieg als dem „ersten Holocaust“ die Rede ist im Zusammenhang mit

dem Aufstieg des Kommunismus.  Aber vom zweiten Weltkrieg samt

Vorgeschichte wird in den Centurien ausführlich gehandelt, warum

dann nicht auch vom ersten Weltkrieg?  

Kennzeichnend für Nostradamus´ Wahrnehmung ist, dass er charisma-

tische Figuren fokussiert, die für ihn antichristliches Denken und

Handeln verkörpern. In Napoleon und Hitler hat er Vorläufer jenes

Antichristen erschaut, der noch aussteht, 9/5 [VIII].  Einen

solchen Charismatiker, in dem das Böse einen Namen erhält, hat das

Geschehen 1914-18 nicht aufzuweisen.  Der deutsche Kaiser, vor dem

Krieg ein gefährlicher Großsprecher, gibt während des Krieges eine

klägliche Vorstellung.  Mit Hindenburg hat der preußische Milita-

rismus einen Repräsentanten, dessen altväterliche, durch den

>Mythos von Tannenberg< überhöhte Ausstrahlung an die Charismen

eines Napoleon oder Hitler nicht heranreicht.  Anders als diese

gehört er einer alten Elite an, ist kein Geschöpf des Volkes

und geht nicht aus dessen Revolution hervor.

 

Auszug aus dem historischen Inhaltsverzeichnis

03/07   Stellungskrieg, Flugzeuge werden eingesetzt

01/64   Leuchtmunition, Flugzeuge, Gasmasken

03/71   Die Seeblockade durch Großbritannien und die Ernährungslage im Reich

06/43   Die Verwüstungen durch den Stellkungskrieg  -

noch einmal wird die verwüstete Gegend angegriffen

02/90   Das Ende der Monarchie Österreich-Ungarn

03/95   Schwäche des Islam, Aufstieg des Kommunismus

05/26  Die Slawen durch Krieg hoch erhoben

01/40   Grundlegender Wandel in Byzanz

05/70   Durch einen „großen Krieg“ geraten Fürsten ins Wanken,

und am Ende ertönt der Ruf nach einer neuen Zeit

 

        Stellungskrieg, Flugzeuge werden eingesetzt

 

03/07   Les fuitifs, feu du ciel sus les piques:/

Conflit prochain des corbeaux s’ esbatans:/

De terre on crie aide secour celiques/

Quand pres des murs seront les combatans. (1555)

          

Die Flüchtigen, Feuer vom Himmel auf die Waffen,/

im nächsten Kampf tummeln sich die Raben./

Von unten schreit man um Hilfe, himmlische Unterstützung,/

wenn bei den Mauern die Kämpfenden sein werden.

                   

1) N.f. pique Lanze, Spieß, metaphorisch auch modernere Waffen

2) Mittelfrz. v. s‘ esbatre sich tummeln, freudig die Kräfte erproben

3) Zu den Mauern s. das Glossar unter -> mur.

 

 

Trotz fehlender Ortsangaben spricht hier manches für den ersten Weltkrieg, in dem erstmals Flug-

zeuge eingesetzt werden.  Charakteristisch ist, dass der Stand der Waffentechnik den Verteidiger

begünstigt, so dass nach anfänglichem Bewegungskrieg die Gegner sich an festgefahrene

Fronten gegenüberstehen.

Vz 2/4 [Mauern/ Raben]  Mit den >Mauern< können Anlagen zur Befestigung von Fronten gemeint

sein wie in Vers 3/33 (Kap.38), wo diese Deutung anders als hier zwingend ist.  Ein weiteres Indiz

für den Stellungskrieg sind die Raben.  Viele Soldaten, die bei Vorstößen im Niemandsland

zwischen den Schützengräben liegenbleiben, können nicht zurückgeholt und gerettet oder begra-

ben werden;  ihre Leichname werden buchstäblich zum Futter der Raben und Ratten.

Vz 1/3 [Feuer vom Himmel/ himmlische Unterstützung]  Auf jede mögliche Weise versucht man,

das militärische Patt aufzubrechen.  Dazu gehört der Einsatz neuer Waffen, der ersten Flugzeuge,

der ersten Chemiewaffen, der ersten Tanks.  Auf Flugzeuge, die in das Kampfgeschehen eingrei-

fen, deutet die erste Verszeile.  Stoßgebete werden in allen Kriegen zum Himmel gesandt, daher

handelt die dritte Verszeile eher davon, dass per Telegraph Luftunterstützung angefordert wird.

 

 

         Leuchtmunition, Flugzeuge, Gasmasken

 

01/64   De nuit soleil penseront avoir veu/

Quâd le pourceau demy-homme on verra,/

Bruict, chant, bataille, au ciel battre aperceu/

Et bestes brutes a parler lon orra. (1555)

 

Sie werden meinen, nachts die Sonne gesehen zu haben,/

wenn man das Schwein, halb Mensch sehen wird./

Dröhnen, Pfeifen, Schlacht, am Himmel Kämpfe erkennbar,/

und groben Bestien wird man beim Sprechen zuhören.

 

3) N.m. chant Gesang, Laut von Vögeln

Zum Himmel s. das Glossar unter -> ciel.

4) Bêtes brutes ungehobelte, brutale, dumme Menschen

 

 

Vz 1/3 [am Himmel Kämpfe/ nachts Sonne gesehen]  N. erlebt eine Schlacht und schildert, was

er hört und sieht.  Die moderne Zeit ist daran zu erkennen, dass auch „am Himmel“ gekämpft wird,

nämlich mit Flugzeugen. Zur Aufklärung wird nachts Leuchtmunition verschossen, die die Szenerie

taghell erleuchtet. Beobachter „meinen“, die Sonne zu sehen, aber sie ist es nicht, die da scheint.

Vz 2 [Schwein, halb Mensch zu sehen]  Darin können mit Gasmasken ausgerüstete Soldaten

erkannt werden.  Die Spitzen dieser Masken mit Luftlöchern erinnern von Ferne an Schweine-

rüssel.  Außerdem sind die Infanteristen gezwungen, sich in Gräben und Erdbunkern zu ver-

schanzen, >in der Erde zu wühlen<, darin Schweinen nicht unähnlich.

Vz 3/4 [Dröhnen, Pfeifen/ Bestien sprechen]  Das „Dröhnen“ und „Pfeifen“ durch Gebrauch von

Schusswaffen gehört zu modernen Schlachten dazu.  Die Unterhaltung von Bestien kann als Donner

von Geschützen verstanden werden.  Es werden Haubitzen auch schwersten Kalibers verschossen,

über deren Akustik eindrucksvolle Schilderungen vorliegen (Piekalkiewicz, Erster Weltkrieg S. 262).

Flugzeuge, Leuchtmunition, schweres Geschütz, Gas deuten auf den ersten Weltkrieg, in dem erst-

mals Giftgas eingesetzt wird.  Die erste Verszeile, für sich genommen, könnte wohl auch auf eine

atomare Explosion hinweisen;  aber die anderen Angaben des Verses kann diese Deutungsidee

nicht erklären.

 

 

         Die Seeblockade durch Großbritannien und die Ernährungslage im Reich

 

03/71   Ceux dans les isles de long temps assiegés/

Prendront vigeur force contre ennemis:/

Ceux par dehors morts de faim profiles,/

En plus grand faim que iamais seront mis. (1555)

 

Die auf den Inseln, seit langem belagert,/ werden

zu Kräften kommen, Macht einsetzen gegen (ihre) Feinde./

Die draußen (sind) tot, von Hunger überwältigt,/

sie werden in größeren Hunger geraten als jemals zuvor.

 

3) Mittelfrz. par dehors äußerlich (extérieurement),

lat. v. profligare niederschlagen, überwältigen, zugrunderichten

 

 

Vz 1 [Die auf den Inseln lange belagert …]  Im November 1914 wird die Nordsee von Großbritan-

nien zum Kriegsgebiet erklärt, im Februar 1915 verhängt die politische Führung Deutschlands eine

Blockade über die gesamten britischen Inseln, die bis Kriegsende in Kraft bleibt.  Somit sind die

Briten am Ende des Krieges „lange belagert“.

Vz 2 [… kommen zu Kräften]  Obwohl die deutsche Marine Erfolge erzielt, kann sie die britische

Kriegswirtschaft nicht entscheidend schwächen.  Nachdem Deutschland im Februar 1917 den

warnungslosen U-Boot-Krieg erklärt hat, treten die USA auf Seiten der Entente in den Krieg ein

und unterstützen Großbritannien seitdem auch militärisch. Dadurch "kommen die auf den Inseln",

die Briten, "zu Kräften" und können mehr "Macht einsetzen" und letztlich siegreich gegen die

Mittelmächte, ihre "Feinde", vorgehen.

Vz 3/4 [Die draußen tot/ größter Hunger …]  Deutschland dagegen wird durch die Seeblockade

von der Zufuhr kriegswichtiger Rohstoffe abgeschnitten und vom Welthandel ausgeschlossen. 

In diesem Sinne sind die Deutschen „draußen“.  Durch den Kriegseintritt Italiens auf Seiten der

Entente im Mai 1915 fallen für Deutschland auch die Mittelmeerhäfen aus.  Verschärft durch den

kompletten Ausfall des Seefisches, verschlechtert sich die Ernährungslage im Reich ab 1916. 

Der Winter 1916/17 geht als Hungerwinter und Steckrübenwinter in die Geschichte ein.  In ganz

Deutschland verhungern 1914-18 etwa siebenhundertfünfzig Tausend Menschen.

Vz 3 [… vom Hunger überwältigt]  Damit ist angedeutet, dass die sich verschlechternde Versor-

gung auch der Soldaten bei zugleich äußerster Anspannung der militärischen Kräfte zum Verfall

der Kampfmoral beigetragen und den Krieg mitentschieden hat.  Der Separatfrieden mit der

Ukraine heißt wegen der vereinbarten Getreidelieferungen gegen die Anerkennung als Staat auch

>Brotfriede< und lässt erkennen, worum es am Ende geht.  (Im Zweiten Weltkrieg wird erst nach

Kriegsende in Deutschland gehungert, die Ernährungslage v o r  seinem Ende beeinflusst den

Kriegsausgang nicht.)

 

„In einem solchen Erschöpfungskrieg .. entwickelte sich die englische Blockade

zur entscheidenden Waffe.  Sie war es nicht sofort, denn Deutschland hatte sich

auf den Krieg gut vorbereitet. (…)  Daß es durch England von allen Übersee-

zufuhren abgeschnitten wurde, spielte zunächst noch keine Rolle.  Andererseits

war nicht daran zu rütteln, daß das wirtschaftliche und ernährungsmäßige

Durchhalten des Krieges mit jedem Kriegsjahr zu einem größeren Problem

werden würde.  In einem Erschöpfungskrieg arbeitete die Zeit erkennbar gegen

das Deutsche Reich… Deutschland hungerte; England und Frankreich hatten

wenigstens satt zu essen.“

 

                Sebastian Haffner, Von Bismarck zu Hitler, München 1989, S. 123

 

 

        Die Verwüstungen durch den Stellungskrieg  –   

noch einmal wird die verwüstete Gegend angegriffen

 

06/43   Longs temps sera sans estre habitée,/

Où Signe & Marne autour arouser:/

De la Tamise & martiaux tentée,/

Deceuz les gardes en cuidant repouser. (1568)

 

Lange Zeit wird unbewohnt sein (die Gegend),/

wohin Seine und Marne ringsherum fließen./

(Die Gegend) von der Themse und Kriegerischen umkämpft,/

die Wachen getäuscht, wenn sie glauben zurückzuschlagen.

 

1)3) Die weiblichen p.p.p. habitée und tentée sind erklärt,

wenn das n.f. contrée Gegend als Subjekt interpoliert wird.

2) Neben der Marne stehend, ist Signe eine verschriebene Seine.

3) Lat. Tamesis oder Tamesa Themse.  Mittelfrz. v. tenter zu treffen suchen

(chercher à atteindre) > lat. v. temptare angreifen, zu erobern suchen

4) Mittelfrz. v. cuidier denken, glauben, meinen; mit Infinitiv: versuchen

 

 

Vz 1/2 [Seine und Marne]  Unter anderem an der Marne werden im ersten Weltkrieg große

Schlachten geschlagen.  Bis zur Seine kommen die Deutschen nicht, aber doch in deren Nähe. 

Nach den jahrelangen Materialschlachten sind die ehemaligen Frontgebiete entvölkert und sehen

danach lange aus wie Mondlandschaften.  Der Wiederaufbau dauert Jahrzehnte.

Vz 3 [Themse und Kriegerische]  Deutsche, Franzosen und Briten kämpfen im Mai/Juni 1940

fast auf denselben Schlachtfeldern wie im ersten Weltkrieg, hier daran erkennbar, dass in der

zweiten Vershälfte von derselben Gegend die Rede ist wie in der ersten.  Die „Kriegerischen“

sind die Deutschen, und die >Themse< steht für die zehn britischen Divisionen, die in der 30er

Jahren in die französische Verteidigung eingereiht werden.

Vz 4 [getäuschte Wachen]  Die britischen Divisionen sollen die französische Verteidigung ver-

stärken, um Frankreich gegen deutsche Übergriffe zu bewachen.  Doch diese „Wachen“ täuschen

sich in der Wirksamkeit ihrer Strategie.  Im Kriegsfall sollen die Deutschen in Stellungskämpfe

wie 1914ff verwickelt werden.  Aber die deutschen Panzerstreitkräfte werden unterschätzt. 

Nur mit knapper Not und mit der Hilfe des Laienfeldherrn in Berlin können die britischen Truppen

von Dünkirchen aus evakuiert werden.  Aus dem geplanten Zurückschlagen wird nichts.  Die

wortgleich „getäuschten Wachen“ in Vers 2/25 (Kap.35) bedeuten dasselbe wie hier, was für die

angegebene Deutung spricht.

 

 

         Das Ende der Monarchie Österreich-Ungarn

 

   02/90    Par vie & mort changé regne d‘ Ongrie:/

                    La loy sera plus aspre que seruice,/

                    Leur grand cite d’ vrlemêts plaincts & crie:/

                    Castor & Pollux ennemis dans la lyce. (1555)

 

                    Durch Leben und Tod gewandelt die Herrschaft von Ungarn,/

                    das neue Gesetz wird härter sein als Dienst./

                    Ihre große Stadt (erfüllt von) Heulen, Klagen und Geschrei./

                    Castor und Pollux (sind) Feinde auf dem Kampfplatz.

 

 

Vz 1/2 [Herrschaft gewandelt/ neues Gesetz …]  Eine loy ist bei Nostradamus eine Rechtsord-

nung als ganze, und regne ist die in ihrem Rahmen ausgeübte Herrschaft.  Sie haben sich ge-

wandelt, weshalb die Deutung auf den erfolglosen Aufstand von 1956 ausscheidet.  Sie haben

sich „durch Leben und Tod“ gewandelt, d.h. die alte Ordnung ist untergegangen, und etwas

Neues ist an ihre Stelle getreten.  Der „Dienst“ findet sein Gegenstück in der „Herrschaft“   -   

bis 1918 nämlich, als die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn nach einem verlorenen Krieg

zusammenbricht.

Vz 3/4 [… härter als Dienst/ Bruderkämpfe]  In der neuen Ordnung werde es den Menschen 

n i c h t  besser gehen als zuvor, sie werde „härter“ sein als die alte.  Nach dem Zusammen-

bruch der Monarchien kommen überall die Kollektive mit ihren konkurrierenden Ideologien

zum Zuge, die den Kampf der Nationen, der Klassen oder der Rassen propagieren.  Sie

spalten die Völker untereinander und in sich, die Zerwürfnisse reichen bis in die Familien

hinein.  Dafür stehen die einander bekämpfenden Brüder Castor und Pollux, sind also nicht

so metaphorisch, wie man zunächst meint.

Vz 1/3  [Ungarn/ Heulen, Klagen und Geschrei]  Nach dem ersten Weltkrieg wird Ungarn,

bis dahin in einem viele Nationen beherbergenden Kaiserreich gelegen, zu einem kleinen

Nationalstaat unter anderen.  Im Jahr 1918 wird die Republik ausgerufen, 1919 kommt eine

Räteregierung unter Bela Kun an die Macht, der noch im selben Jahr außer Landes gejagt

wird.  Nach dem an der Seite Hitlerdeutschlands verlorenen zweiten Weltkrieg wird das Land

>von Faschisten gesäubert<.  Alle Ungarn müssen mit Verfolgung rechnen, die nicht stalinisti-

scher Gesinnung sind.  Im Volksaufstand von 1956 entlädt sich der Unmut über die kommuni-

stische Diktatur.  Er wird blutig niedergeschlagen.

 

 

         Schwäche des Islam, Aufstieg des Kommunismus

 

03/95    La loy Moricque on verra defaillir:/

Apres vne autre beaucoup plus seductive,/

Boristhennes premier viendra faillir:/

Par dons & langue vne plus attractiue. (1555)

 

Das maurische Gesetz wird man schwach werden sehen./

Danach (kommt) ein anderes, sehr viel verführerischeres (Gesetz)./

(Der) Dnjepr wird ihm als erster verfallen./

Durch Gaben und Sprache (wird es) noch anziehender.

                   

1) Mittelfrz. v. defaillir verfehlen, scheitern (manquer), fehlen (faire défaut),

schwach werden (s‘ affaiblir), nachlassen, schwinden (décliner).

2) Zu „verführerisch“ s. das Glossar unter -> seduire

3) Lat. Boristhennes Dnjepr (Fluss)

4) Zur Sprache s. das Glossar unter -> langue

 

 

Vz 1 [Maurisches Gesetz …]  Eine loy ist bei N. eine Rechtsordnung als Ganze, begründet

auf ein religiöses oder philosophisches Prinzip, s. Glossar und Exkurs (2)Moros, deutsch

„Mauren“, heißen heute noch bei den Christen Spaniens die aus Nordwestafrika stammenden

Berber und Araber islamischen Glaubens. Demnach ist das >maurische Gesetz< ein Deck-

name für den Islam und die von ihm begründete politische Ordnung.

Vz 1 [… wird schwach]  Das Bündnis des osmanischen Reiches mit Deutschland und Öster-

reich-Ungarn im ersten Weltkrieg besiegelt dessen Ende.  Danach kommt der laizistische

Staat Türkei des Mustafa Kemal, der den Islam aus dem öffentlichen Leben verbannt und die

Türkei dem Westen öffnet. Der Islam als Religion lebt weiter, ist aber nicht mehr das Prinzip

der politischen Ordnung und „wird“ in diesem Sinne „schwach“.

Vz 2 [anderes Gesetz kommt]  In die Zeit nach dem ersten Weltkrieg fällt der Aufstieg eines

„anderen Gesetzes“, nämlich des Kommunismus.  Diesen hält N. für „verführerisch“ und

meint damit hier wie andernorts die Wegführung vom christlichen Glauben.  Darin erkennt er

den gemeinsamen Nenner von Islam und Kommunismus.  Dieser sei sogar „sehr viel verfüh-

rerischer“ als der Islam, denn als Religionsersatz will er den Menschen nur diesseitige Ziele

als erstrebenswert vorstellen.

Vz 1/2 [Nacheinander und Gleichzeitigkeit]  Der Vers nennt den Niedergang des Islam und

den Aufstieg des Kommunismus in einem Atemzug wegen der Gleichzeitigkeit der Vorgänge. 

Andererseits heißt es "n a c h" der Schwächung des Islam komme ein „anderes Gesetz“. 

Doch das ist kein Widerspruch. Der lange vorher beobachtbare Niedergang des Islam findet

1918 bis 1923 einen sichtbaren Abschluss, während der Aufstieg des Kommunismus 1917

bis 1922 sichtbar beginnt und sich noch lange fortsetzt. Es sind zwei weit gespannte Bögen,

die sich für ein paar Jahre überlappen.

Vz 3 [Dnjepr]  Der Dnjepr fließt, in Russland entspringend, durch Weißrussland und die

Ukraine ins Schwarze Meer und steht für diese Länder Osteuropas.  Mit den ersten Verfüh-

rungsopfern des Kommunismus sind demnach die Völker Russlands, Weißrusslands und

der Ukraine gemeint, denen später noch weitere Völker Europas und Asiens folgen sollen. 

Der Einwand, St. Petersburg, von wo die Revolution 1917 ausgeht, liege nicht am Dnjepr

(Pfändler, Nostradamus, Seine Prophezeiungen, Die Urtexte, Chieming 1996 S.265),

verkennt die Adlerperspektive des Verses. Wenn vom Islam und dem Kommunismus

schlechthin gesprochen wird, sind raumgreifende und zeitverbrauchende Entwicklungen

gemeint.  Der Vers meint nicht ein einzelnes Ereignis, sondern den fünfjährigen Prozess,

in dem nach der Niederlage der Osmanen von 1918 im griechisch-türkischen Krieg 1920-22

sich 1923 ein laizistischer Staat in der Türkei durchsetzt.  In entsprechender Weise ist die

Entscheidung, dass Russland und die Ukraine kommunistisch werden, 1917 nicht gefallen,

sondern erst nach mehrjährigem Bürgerkrieg, in dem die >Roten< schließlich obsiegen.

Vz 4 [Anderes Gesetz noch attraktiver…]  Militärische und polizeiliche Gewalt der Revolutio-

näre allein hätten nicht ausgereicht, den Kommunismus durchzusetzen.  Es werden „Gaben“

und „Sprache“ eingesetzt, das „andere Gesetz“, den Kommunismus „noch attraktiver“ zu

machen, als er ohnedies schon ist. Damit ist angedeutet, welche Begeisterung die Ideen vom

gesellschaftlichen und technischen Fortschritt anfangs entfacht und welche Dynamik sie ent-

faltet haben.

Vz 4 [… durch Gaben und Sprache]  Die „Gaben“ sind die zivilisatorischen Errungenschaften,

deren Verbreitung und allgemeine Verfügbarkeit im neuen Staat den Menschen verheißen

wird gemäß dem Wort Lenins, Sozialismus bedeute die Macht der Räte plus Elektrifizierung

des ganzen Landes.  Die „Sprache“ ist die Propaganda als Mittel der Politik, die damals

in großem Stil und mit großem Erfolg zur Umerziehung der Menschen eingesetzt wird.

Im Kommunismus tritt an die Stelle der alten Feudalherren eine neue, ideologisch geprägte

Klasse von Herren im Zeichen der Klassenlosigkeit.  Um diesen Umschichtungscharakter

zu verschleiern, ist eine Sprache erforderlich, die das noch nicht Vorhandene, den utopischen

Zustand des kommunistischen Ideals in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt  -  eine

unbeabsichtigte Parodie auf die Rede der christlichen Religion vom kommenden Gottesreich

und auch daran als Religionsersatz erkennbar.

 

 

Die Slawen durch Krieg hoch erhoben 

 

05/26 La gent esclave par vn heur martial,/

Viendra en haut degré tant esleuee:/

Changeront prince naistre vn prouincial,/

Passer la mer copie aux monts leuee. (1568)

 

Das Slawenvolk wird durch Glück im Krieg/

zu hohem Rang kommen, hoch erhoben werden./

Sie wechseln den Fürsten, es erscheint einer aus der Provinz./

Über 's Meer fahren Truppen, hinaufgeführt bis zu den Bergen.

 

1) Altes n.m. heur Glück.

N.m. esclave Sklave. Mittellateinisch sclaveni Slawen.

Bei N. kommen beide Bedeutungen in Frage.

4) Lat. n.f.pl. copiae Truppen

 

 

Vz 1/2 [Slawen hoch erhoben] Mit dem slawischen oder versklavten Volk sind die Russen

gemeint, bei denen die Leibeigenschaft erst im 19. Jahrhundert aufgehoben wird. Während

des ersten Weltkrieges zerfällt die Zarenherrschaft, die Bolschwewiki kommen im Januar 1918

an die Macht und können sich bis 1923 im Bürgerkrieg durchsetzen. Von einem Kriegsglück des

russischen Volkes im ersten Weltkrieg und danach kann allerdings nicht gesprochen werden.

Die Ideen des Kommunismus, die sich die Revolutionäre zu eigen machen, üben damals große

Anziehungskraft aus. Die im Entstehen begriffene Sowjet-Union wird zunächst nur ideologisch

zur Großmacht, 3/95 (s.o.).

Vz 3 [Wechsel an der Spitze/ Provinzler erscheint] Lenin ist der erste Diktator, auf den 1924

der Georgier Stalin folgt. Er wird im zweiten Weltkrieg zum "großen Kriegsherrn aus Armenien",

5/94 (Kap.38). Armenien grenzt an Georgien, das es im 16. Jahrhundert unter diesem Namen

noch nicht gibt.

Vz 4/1 [Truppen über 's Meer bis zu den Bergen/ durch Kriegsglück hoher Rang] Militärisch

gilt die Sowjet-Union noch während des zweiten Weltkrieges bei den Westalliierten als unter-

entwickelt. Man traut Stalin nicht zu, einen wesentlichen Beitrag zur Niederringung Hitlerdeutsch-

lands leisten zu können, 2/55 (Kap.38). Erst durch den siegreichen Feldzug gegen das deutsche

Reich und den Bau der Atombombe erringt die Sowjet-Union den Status einer zweiten Super-

macht, 2/89 (Kap.40).

Dass der Vers auch vom ersten Weltkrieg handelt, ergibt sich aus Verszeile drei, die den

Wechsel an der Spitze im Jahr 1924 beschreibt. Das Glück, einen Krieg zu gewinnen, erleben

die Russen dann erst im zweiten Weltkrieg auch dank ihrer mächtigen Verbündeten im Westen.

Dass es keine sowjetischen Truppen sind, sondern die verbündeten Westalliierten, die 1943/44

über 's Meer kommen, über Mittelmeer und Atlantik, und nach der Eroberung Italiens auch die

Alpen überqueren, spricht daher nicht gegen diese Deutung. Der Vers ist aus der Überschau

der Zeiten gesprochen. 

 

 

        Grundlegender Wandel in >Byzanz<

 

01/40   La trombe fausse dissimulant folie/

Fera Bisance vn changement de loys:/

Hystra d‘ Egypte qui veult que l‘ on deslie/

Edict changeant monnoys & aloys. (1555)

 

Der unsinnige Aufruhr, der Narrheit verbirgt,/

wird Byzanz eine Wandlung der Gesetze einbringen./

Es wird ausgehen von Ägypten, das will, dass man es entbindet./

(Eine) Verordnung ändert Münzen und Legierungen.

 

1) Mittelfrz. n.f. trompe Wasserhose (trompe d‘ eau), Wirbelsturm

(cyclone), Trompete (trompette)

3) Die Futurform hystra kommt vom mittelfrz. v. issir, istre

ausgehen, herkommen (sortir) > lat. exire

4) Mittelfrz. n.m. aloi Münzgeld aus Metalllegierungen

 

 

Vz 3/4 [Ausgangspunkt]  Ägypten strebt im neunzehnten Jahrhundert nach Unabhängigkeit vom

osmanischen Reich, dessen Oberhoheit das Land seit Jahrhunderten untersteht.  Seit 1866

darf es eigene Münzen prägen.  Ein Aufstand ermöglicht es 1881 den Briten, trotz des Vasallen-

status der Ägypter das Land zu besetzen.  Daran wird die Schwäche des osmanischen Reiches

deutlich.  Man spricht in Europa damals vom >kranken Mann am Bosporus<.  Österreich und

Russland streiten bereits um den europäischen Nachlass der Osmanen auf dem Balkan.  Diese

Lage bildet den Ausgangspunkt des Verses.

Vz 1 [Aufruhr …]  Eine trombe ist ein Wirbelsturm und metaphorisch ein plötzlich einsetzendes,

Aufregung und Lärm bringendes Geschehen.  Das Geschehen, das dem Osmanischen Reich

den tödlichen Stoß versetzt, ist der erste Weltkrieg, in den es auf Seiten Deutschlands und

Österreich-Ungarns eintritt.  Seit 1881 von den Briten kontrolliert, wird Ägypten im Krieg zum

Aufmarschgebiet, von wo aus die britischen Truppen nach Palästina und Syrien vordringen

und so im Dezember 1917 zum Zusammenbruch der Osmanen beitragen.

Vz 1 [… unsinnig, Narrheit verbergend]  Diese Einschätzung des ersten Weltkrieges haben die

meisten Zeitgenossen nicht geteilt, aber aus der Distanz von heute wie von 1555 trifft sie offen-

bar gleichermaßen zu.  Die Unsinnigkeit ist „verborgen“ dadurch, dass man die Verteidigung

der Heimat und des Vaterlandes auf die Fahnen schreibt.  In Wahrheit wird die Entwurzelung

der Menschen im Zeichen von Industrialisierung und Fortschritt durch den Zerfall der letzten

Vielvölkerreiche zugunsten ethnisch bestimmter Staaten noch beschleunigt.

Vz 2 [… bringt Byzanz eine Wandlung der Gesetze]  Durch ihr Bündnis mit den Mittelmächten

gehören die Osmanen zu den Verlierern des Krieges.  Ihre alte Ordnung mit Sultanat und Kalifat

kann sich nicht erhalten. Aus dem Rumpf des Reichs der Osmanen wird fünf Jahre nach dem

Ende des Krieges die laizistische Republik Türkei.

 

 

        Durch einen großen Krieg geraten die Fürsten ins Schwanken,
                                                       und am Ende ruft man nach einer neuen Zeit

Kennt man die Sonderbedeutung des >Gleichgewichts<, der >beiden Geschlechter< und der

>Berge< bei N., ergibt sich die Deutung des folgenden Verses wie von selbst.  Für N. geht der

Krieg von den Mittelmächten aus, und er sieht dessen charakteristische Folge, den Zusammen-

bruch mehrerer Monarchien.

 

 

5/70      Des regions subiectes à la Balance,

Feront troubler les monts par grand guerre,

Captifs tout sexe deu & tout Bisance,

Qu’ on criera à l’ aube terre à terre.

 

Einige Gegenden, unterworfen dem Gleichgewicht,

werden die Berge schwanken lassen durch großen Krieg.

Kriegsgefangen alle beide Geschlechter und ganz Byzanz,

so dass man nach dem Tagesanbruch ruft, Land nach Land.

 

1) Zum Gleichgewicht als Metapher s. das Glossar unter -> balance.

2) Zum Berg als Metapher s. das Glossar unter -> mont.

Mittelfrz. v. troubler sich bewegen, schwanken (s‘ agiter), trüb werden

(se troubler), einen schlechten Dienst erweisen (desservir), schaden (nuire)

3) Zu den Geschlechtern s. das Glossar unter -> sexe.

Adj. captif gefangen > lat. captivus (kriegs)gefangen, erbeutet

4) un à un einer nach dem andern, pas à pas schrittweise; man kann

also auch übersetzen: „länderweise“, „ein Land nach dem andern“.

 

  

Vz 1 [Einige Gegenden, unterworfen dem Gleichgewicht …]  Das Symbol der Waage, einer Gleich-

gewicht anzeigenden Waage, verwendet N. für die Staatsform der verfassten Monarchie, die einen

Ausgleich zwischen der Königsherrschaft und dem Anspruch des Volkes auf Teilhabe an der Herr-

schaft gewährleisten will.  Das deutsche Kaiserreich von 1871 und die seit 1867 ebenfalls konstitu-

tionelle Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, 5/42 (Kap.29), heißen hier lapidar „einige Gegenden,

unterworfen dem Gleichgewicht“.

Vz 2 [… lassen die Berge schwanken durch großen Krieg]  Berge sind dem Himmel näher als die

Ebenen und können daher für die Verbindung von Oben und Unten; Gott und den Menschen stehen.   

In der alten, biblischen Anschauung wird diese Verbindung durch die von Gottes Gnaden eingesetz-

ten Fürsten geschaffen.  D i e s e  also geraten durch einen großen Krieg ins Schwanken.  Und die

Dämmerung einer neuen Zeit am Ende des Verses legt schon nahe, dass Mancher der Schwanken-

den dann auch stürzt.

Vz 3 [Kriegsgefangen beide Geschlechter und ganz Byzanz]  Nachdem der Krieg einmal ausge-

brochen ist, gibt es für die Beteiligten wegen ihrer Kriegsziele und Ehrbegriffe keinen Ausweg aus

dem Geschehen, bis Sieger und Verlierer feststehen.  Fürsten und die ihnen anvertrauten Völker,

Herren mit ihren >Damen<,also >beide Geschlechter< (s. Glossar unter dame) sind verstrickt in ein

Geschehen, dem sie nicht entkommen, bis es nach eigenem und vorher nicht bekanntem Gesetz

ein Ende findet.  Das mag für die meisten modernen Kriege gelten.  Aber dass auf Seiten der

Deutschen und Österreicher auch die Türken (>Byzanz<) dem Krieg beigetreten sind, weist klar

auf die Grande Guerre, den „Großen Krieg“, als welche der Erste Weltkrieg in die französische

Geschichte eingegangen ist.

Vz 4 [Ein Land nach dem andern ruft nach dem Tagesanbruch]  Auf Seiten der Verlierer ruft man

am Ende nach dem >Tagesanbruch<, d.h. nach dem Anbruch einer neuen Zeit.  Die >Berge< 

- es sind die deutsche, die österreichische und die türkische Monarchie -  schwanken und stürzen

im Großen Krieg.  Im Licht der neuen Zeit wird das Verhältnis der >Geschlechter< neu bestimmt. 

Am Morgen einer neuen Zeit gelten >Berge<, d.h. Monarchien, sowie >Gleichgewicht<, d.h. die

Staatsform der verfassten Monarchie, als abgelebt.