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      Übersicht

         Abschnitt  (1)   Widmung

         Abschnitt  (2)   Erweiterung des Wissens

         Abschnitt  (3)   Fortsetzung der Widmung, Tausendzahl

         Abschnitt  (4)   Räumlicher Geltungsbereich -  Natürlicher Umsturz

         Abschnitt  (5)   Vierzeiler anstößig  -  Die Jahre 1585 und 1606

         Abschnitt  (6)   Ankunft am Beginn des siebten Jahrtausends -  Vermehrung der Gegner Christi

         Abschnitt  (7)   Bedingungen der  Wahrheit prophetischer Rede  -  Berechnungen im Geist der Minerva

         Abschnitt  (8)   Gottesgnadentum der Könige  -  Nichts gegen den wahren katholischen Glauben

         Abschnitt  (9)   Biblische Zeittafel (I)  - Varro und Eusebius  -  Verführung der Sarazenen

         Abschnitt (10)  Notwendigkeit der Verdunklung  -  Möglichkeit der Deutung

         Abschnitt (11)  Selbstverständnis  -  Vision und Wort 

 

         VH (1)  =  Vorrede an Heinrich II., Abschnitt (1)

      Widmung

      Text   A L‘ INVICTISSIME, TRES-PVISSANT, ET tres Chrestien Henry Roy de France second,

                Michel Nostradamus son tres-humble, et tres-obeissant seruiteur et subiect, victoire et felicité.

Dem unbesieglichen, höchst machtvollen und höchst christlichen Heinrich,

dem Zweiten, König von Frankreich, (wünscht) Michel Nostradamus,

sein niedrigster und gehorsamster Diener und Untertan, Sieg und Glückseligkeit.

                            Anmerkung  N. widmet seine Vorrede und damit seine ganze Prophetie dem König seines

                            Heimatlandes.  Der modernen Ohren allzu unterwürfig klingende Gestus der Anrede ist

                           die seinerzeit einzig akzeptable Art, einem Mitglied des Hochadels, und zumal dem König,

                            in einer schriftlichen Anrede sich zu nähern.  Er entspricht im Übrigen der königstreuen

                            Gesinnung des Sehers.  Mit der Weglassung des „von“ in seinem Namen legt der Seher

                           die Haltung dessen an den Tag, der sich selbst zurücknimmt, um das, was er zu sagen hat,

                            um so glaubhafter und bedeutsamer erscheinen zu lassen.  Zudem gibt er damit zu erkennen,

                            dass er der Ansicht ist, sein Verdienst sei nicht ererbt, sondern werde durch seine

                            Zukunftsschau erst begründet.

 

 

         VH (2)  =  Vorrede an Heinrich II., Abschnitt (2)

      Erweiterung des Wissens

         Text   POVR icelle souueraine obseruation que i‘ ay eu, ô tres Chrestien & tres victorieux Roy,

                   depuis que ma face estant long temps obnubilee (a) se presente au devant de la deité de

                   vostre maiesté immesuree, depuis en ca I’ ay esté perpetuellement esblouy, ne desistant

                   de honorer et dignement venerer iceluy iour que premierement deuant icelle ie me presentay

                   comme à une singuliere maiesté tant humaine.  Or cherchant quelque occasion par iceluy

                   mon pouuoir eusse faict ample extension de cognoissance enuers vostre serenissime maiesté. 

                   Or voyant que oar effects le declairer ne m’ estoit possible, ioinz auec mon singulier desir

                   de ma tant longue obtenebration (b) & obscurité, estre subitement esclarcie et transportee

                   au deuant de la face die souuerain oeil, du premier monarque de l’ uniuers,

                                   (a) Altfrz. v. obnubler mit Wolken bedecken, verdunkeln > lat. v. obnubilare verhüllen

                                   (b) Mittellat. n.f. obtenebratio Verdunklung, Verfinsterung

Wegen jener aufmerksamen Beachtung durch den Souverän, die ich erfahren habe,

o allerchristlichster und siegreichster König, präsentiert sich nun mein Angesicht,

nachdem es lange verhüllt war, vor der Göttlichkeit Eurer unermesslichen Majestät.

Seit damals bin ich noch immer geblendet und höre nicht auf, jenen Tag zu ehren

und wahrhaft zu preisen, als ich das erste Mal jenem Mann mich vorstellte, einer ebenso

einzigartigen wie menschlichen Majestät.  Seither bin ich auf der Suche nach einer

Gelegenheit, bei der ich mit Zuversicht mein Herz ausschütten und Mut zur Offenheit

an den Tag legen könnte, um so vor Eurer huldreichsten Majestät zu verdeutlichen,

dass meine Fähigkeiten eine große Erweiterung des Wissens erreicht haben.

Mit der Einsicht, dass ich dies durch Effekte nicht deutlich machen könne, war mein

besonderer Wunsch verbunden, aus meiner langen Verborgenheit und Unbekanntheit

mit einem Sprung ins Licht und vor das Auge des Souveräns zu treten, des ersten

Königs der Welt.

Anmerkung Katharina von Medici, die Gattin Heinrichs II., war es gewohnt, vor wichtigen

Entscheidungen Astrologen zu befragen und hat auch die Dienste des Michel N. dafür

in Anspruch genommen, der dafür eigens nach Paris gereist ist.  Bei dieser Gelegenheit

ist N. anscheinend auch dem König vorgestellt worden, worauf er sich hier bezieht. 

Er hat diesen Mann als verbindlich im Umgang, aber als skeptisch bis ablehnend

gegenüber der Möglichkeit einer Zukunftsschau erlebt, 4/57 (Kap.3).  Aber warum will

er dann den König in seine „große Erweiterung des Wissens“ einweihen und „mit einem

Sprung ins Licht und vor das Auge des Souveräns treten“ ?  Zu dem Entschluss, den

Rest der Verse zusammen mit der Vorrede zu veröffentlichen, braucht es „Zuversicht“

und „Mut“, was darauf schließen lässt, dass er nach dem Erscheinen des ersten Teils

der Verse im März 1555 Anfeindungen ausgesetzt ist, vielleicht auch verdächtigt wird,

mit finsteren Mächten im Bunde zu sein.  Verdächtigungen dieser Art können seinerzeit

gefährlich werden.  Indem er die Verse dem König widmet, gibt N. zu verstehen, dass er

das Licht der Öffentlichkeit nicht zu scheuen brauche, und tritt gewissermaßen die Flucht

nach vorn an.  Er sucht die Protektion von höchster weltlicher Stelle, um mögliche

Verleumder und Verfolger, die vornehmlich aus dem Umfeld der Kirche zu gewärtigen sind,

abzuschrecken.  Die Distanz des Königs gegenüber „Effekten“ bedeutet, dass dieser sich

nicht durch „Beweise“ von übernatürlichen Fähigkeiten überzeugen möchte.  Das respektiert

Nostradamus, weil er begreift, dass Zeichen und Wunder der biblisch bezeugten oder

ähnlicher Art alle Adepten, die so etwas in späterer Zeit unternehmen, allzu aufdringlich in

die Nähe Gottes und des Gottessohnes rücken würden.  Er möchte es vermeiden, seinem

König zu nahe zu treten, ihn durch offene Inanspruchnahme als Schutzpatron zu nötigen.

 

 

         VH (3)  =  Vorrede an Heinrich II., Abschnitt (3)

      Fortsetzung der Widmung, Tausendzahl

         Text   tellement que i‘ ay esté en doute longuement à qui ie viendrois consacrer ces trios Centuries

                   du restant de mes Propheties, paracheuant la miliade, & après auoir eu longuemêt cogité (a)

                   d’ vne temeraire audace, ay prins mon addresse envers vostre Majesté, n’ estant pour cela

                   estôné (b), comme raconte la grauissime (c) aucteur Plutarque en la vie de Lycurgue que voyant

                   les offers & presens qu’ on faisoit par sacrifices aux temples des dieux immortels d’ iceluy temps,

                   & à celle fin que l’ on ne s’ estonnast (b) par trop souuent desdictes fraiz & mises ne s’ osoyent

                   presenter aux temples.  Ce nonobstant voyant vostre splendeur Royalle, accompagnee d’ vne

                   incomparable humanité ay prins mon addresse, non comme aux Rois de Perse, qu’ il n’ estoit

                   nullement permis d’ aller à eux, ni moins s‘ en approcher.

                            (a) Mittelfrz. n.f. cogitation Gedanke Überlegung > lat. v. cogitare denken

                            (b) Mittelfrz. v. estonner u.a. erschüttern, wanken lassen (ébranler), lähmen (paralyser)

                            (c) Lat Adj. gravis auch: gewichtig, ehrwürdig

So kam es, dass ich lange Zeit im Zweifel war, wem ich die drei Centurien aus dem Rest

meiner Prophezeiungen, welche die Tausendzahl vollenden, widmen solle.  Und nachdem

ich lange mit verwegenem Mut nachdachte, habe ich meine Anrede an Eure Majestät

gerichtet, ohne hierin wankend zu werden, wie es der höchst ehrwürdige Autor Plutarch

in seinem „Leben des Lykurg“ von denen erzählt, welche im Angesicht der Weihegaben

und Geschenke, die man in den Tempeln den unsterblichen Göttern jener Zeit als Opfer

brachte, am Ende nicht wankend wurden, obwohl (ihre Gaben) allzu oft zurückgewiesen

wurden als neu und aufwendig, so dass sie es nicht mehr wagten, sie in den Tempeln zu

präsentieren.  Davon ungehindert habe ich im Blick auf Euren königlichen Ruhm, der von

einer unvergleichlichen Menschlichkeit begleitet wird, eine Anrede gewählt, wie sie bei

den Königen Persiens keinesfalls erlaubt war, zu denen man nicht vorgelassen wurde

und erst recht keinen freien Zutritt hatte.

Anmerkung  Diese weitschweifig geratene Passage bringt gegenüber VH (2) wenig Neues.

Bemerkenswert ist, dass N. angibt, die Zahl Tausend werde mit seinen restlichen

Prophezeiungen (der zusammen mit der VH herausgegebenen achten bis zehnten Centurie)

vollendet.  Denn es sind nur 942 Vierzeiler überliefert.  Vielleicht ist es kein Zufall, dass die

Zahl der posthum aufgetauchten Sechszeiler gerade 58 beträgt;  denn 942 + 58 ergeben

genau 1000.

 

 

         VH (4)  =  Vorrede an Heinrich II., Abschnitt (4)

      Räumlicher Geltungsbereich  -  Natürlicher Umsturz

         Text   Mais à vn tresprudent, à vn tressage Prince I’ ay consacré mes nocturnes & prophetiques

                   supputations, composes plustost d’ vn naturel instinct, accompagné d vne fureur poetique,

                   que par reigle de poesie, & la plus part composé & accordé à la calculation Astronomique,

                   correspondant aux ans, moys & sepmaines des regions, contrees, & de la pluspart des villes

                   & citez de toute l’ Europe, comprenant de l’ Affrique, et vne partie de l’ Asie par le changemêt

                   des regions, qui s’ approchant la plus part de tous ces climats (a), & compose d’ vne

                   naturelle faction (b):

  (a) Lat. n.m. clima Witterung, Klima, mittellat. und mittelfrz. auch: Gegend (région)

  (b) Mittelfrz. n.f. faction Partei, Verschwörung, Machenschaft, militärische Aktion,     > lat. n.f. factio Treiben, Umtriebe, Aufstand, Umsturz

Doch einem sehr klugen, sehr weisen Fürsten habe ich meine nächtlichen prophetischen

Berechnungen gewidmet, die eigentlich von einer natürlichen Eingebung zusammen-

gebracht wurden, begleitet von poetischer Leidenschaft statt von Regeln der Poesie. 

Das Meiste wurde verfasst in Übereinstimmung mit astronomischer Berechnung, die

sich auf Jahre, Monate und Wochen von Landschaften und Gegenden bezieht und auf

den größten Teil der Städte und Großstädte ganz Europas, einschließlich jener Afrikas

und eines Teils von Asien [1], wegen dem Wandel der Landschaften, die sich größtenteils

zubewegen auf einen vollständigen Umsturz ihrer Klimate, verursacht durch einen

natürlichen Umsturz [2].

Anmerkung 1 [Räumlicher Geltungsbereich]  In welcher Weise „natürliche Eingebung“ und

„astronomische Berechnung“ zusammenwirken, wird hier nicht deutlich.  Genauer geschildert

wird das weiter unten in VH (7).  Der räumliche Geltungsbereich seiner Prophetie fällt

im Wesentlichen zusammen mit der Ausdehnung der antiken Zivilisation des Mittelmeerraums,

zu der auch Nordafrika und Kleinasien gehören.  Allerdings wird dieser Geltungsbereich

in einigen Fällen auch überschritten, s. Exkurs (12).

Anmerkung 2 [Natürlicher Umsturz und Klimawandel]  Mit dem „natürlichen Umsturz“ ist

dasselbe gemeint wie in VH (18) mit der „großen Versetzung“ infolge der außerordentlichen

Naturereignisse, die um die Zeit der Jahrtausendwende zu gewärtigen sind, siehe unter Vorschau

[II] Komet, Kataklysmus.  Dieser „Umsturz“ werde einen Klimawandel im gesamten räumlichen

Geltungsbereich seiner Prophetie herbeiführen.   Aus heutiger Sicht (2010) wird er den bereits

im Gang befindlichen Klimawandel ruckartig beschleunigen.

 

 

      VH (5)  =  Vorrede an Heinrich II., Abschnitt (5)

         Vierzeiler anstößig  -  Die Jahre 1585 und 1606

         Text   respondra quelqu‘ vn qui auroit biê besoin de soy moucher, la rithme estre autant facile,

                   comme l’ intelligence du sens est difficile.  Et pource, ô tres-humanissime Roy, la plus part

                   des quatrains prophetiques sont tellement scabreux (a), que l’ on n’ y scauroit donner voye

                   ny moins aucuns interpreter, toutesfois esperant de laisser par escrit les ans, villes, citez,

                   regions où la plus part aduiendra, mesmes de l’ année 1585, & de l’ annee 1606.

                            (a) Adj. scabreux gewagt, heikel, anstößig > lat. n.f. scabies Krätze, Juckreiz

Jemand, der es freilich nötig hat, sich die Nase zu putzen, wird darauf sagen,

der Rhythmus sei ebenso eingängig wie das Erkennen ihres Sinns schwierig.

Und das kommt daher, o menschlichster König:  Der größte Teil der prophetischen

Vierzeiler ist so anstößig [1], dass man keine Hinweise und noch weniger irgendeine

Deutung wird geben können, jedoch erwarten darf, die Jahre, Städte, Großstädte,

Regionen niedergelegt zu finden, in denen das meiste sich ereignen wird, und zwar

in den Jahren 1585 [2] und 1606 [3].

Anmerkung 1 [Vierzeiler anstößig]  Auf Erden müssen sich Menschen u.a. die Nase putzen,

und dass die Sterblichen es schwer mit seinen Versen haben würden, war N. klar.  Als Grund

für die absichtliche Verdunklung gibt er an, dass der Inhalt der Prophetie, wenn er verstanden

würde, Anstoß erregen, mindestens als „heikel“ (scabreux) empfunden werden würde. 

Aber inwiefern heikel oder anstößig ?  Nostradamus kündigt, verklausuliert zwar, aber doch

deutlich genug, den Fürsten ihren Sturz aus der Herrschaft an, VH (12), und den Kirchen

ihren Niedergang bis hin zur Zerstörung, VH (23).  Das muss seinerzeit noch ganz unglaublich

geklungen haben und kann dem, der es nicht gleich als Unsinn abtat, schon Anlass zu Unruhe

oder auch Empörung gewesen sein.  Die Zerstörung der von ihm gegebenen Ordnung werde

Gott nicht zulassen;  wer Anderes behaupte, sei selbst ein Aufwiegler und Feind aller weltlichen

und geistlichen Ordnung.  Dass N. genau das mit der Anstößigkeit seiner Texte meint, ergibt

sich aus den beiden Jahreszahlen, die er erwähnt.

Anmerkung 2 [1585]  Im Jahr 1585 wird in Frankreich das Ende der Dynastie der Valois ein-

geläutet, jenes Königshauses, dem N. als Astrologe und Seher verbunden ist und dessen

Oberhaupt er seine Verse zuvor gewidmet hat.  Heinrich von Navarra, der 1584 an die erste

Stelle der Thronfolge gerückt ist, wird im Juli 1585 unter dem Druck der katholischen Liga von

der Thronfolge ausgeschlossen.  In dem >Krieg der drei Heinriche<, der darauf beginnt, wird

der kinderlose König Heinrich III. 1589 umgebracht.  Damit ist die Königssippe der Valois

ausgestorben.  Anschließend erkämpft sich der Hugenotte Heinrich von Navarra den Thron. 

Das ist zwar noch nicht der Sturz des Adels aus der Herrschaft, doch N. fremdelt angesichts

dieser Entwicklung, 6/2 (Kap.12).  Er erkennt im Untergang der Valois, der einem >Ketzer<

auf den Thron verhilft, einen Markstein auf dem Weg in den Sturz der alten Ordnung.  Hätte er

nun den Hinweis auf das Jahr 1585 so verdeutlicht, wäre man in Paris nicht erbaut gewesen

und hätte Anstoß genommen.

Anmerkung 3 [1606]  N. erkennt im Jahr 1606 den Ausgangspunkt des langsamen, aber um so

tiefer greifenden Niedergangs seiner Kirche (der katholischen), ihrer weltlichen Macht wie auch

ihrer geistlichen Autorität.  Er spricht in VH (34) von einer „Verfolgung der Kirche“, die 1606

einsetzen werde;  was er genau meint, wird dort erklärt.  Aus den dortigen Konstellationsangaben

ergibt sich eindeutig, dass das Jahr 1606 der christlichen Zeitrechnung gemeint ist.  Das gilt

dann auch für das im gleichen Atemzug genannte Jahr 1585.

 

 

         VH (6)  =  Vorrede an Heinrich II., Abschnitt (6)

      Ankunft am Beginn des siebten Jahrtausends  -  Vermehrung der Gegner Christi

         Text   accommencant depuis le temps present, qui est le 14. de Mars, 1557,

                   & passant outre bien loing iusques à l’ aduenement (a) qui sera apres au commencement

                   du septiesme millenaire profondement supputé, tât que mon calcul astronomique

                   & autre scauoirs’ a peu estêdre, où les adversaries de Iesus Christ & de son eglise,

                   commenceront plus fort de pulluler.

(a) Mittelfrz. n.m. avenement Durchbruch (évenement décisif qui permet le success);

Ankunft, Eintreffen (arrivée);  Erhebung zu höchster Würde (élévation a une dignité

suprême) > lat. adventus Ankunft

Beginnend in der Gegenwart, dem 14. März 1557, schreite ich weit darüber hinaus

fort bis zu der Ankunft, die nachher stattfinden wird am Beginn des siebten

Jahrtausends [1] - gründlich berechnet, soweit mein astronomisches Kalkül und

anderes Wissen sich darauf erstrecken konnten - , wenn die Gegner Jesu Christi

und seiner Kirche beginnen werden, sich sehr stark zu vermehren [2].

Anmerkung 1 [Siebtes Jahrtausend/ Ankunft an dessen Beginn]  Der Kirchenlehrer

Augustin stellte sich, auf ältere Tradition zurückgreifend, den Ablauf der Weltgeschichte,

den sieben Schöpfungstagen des Buches Genesis entsprechend, in sieben aufeinander

folgenden Weltaltern vor:

(1) Von der Erschaffung Adams bis zur Sintflut,

(2) von der Sintflut bis Abraham,

(3) von Abraham bis zu König David,

(4) von David bis zur Babylonischen Gefangenschaft,

(5) von dieser bis zur Fleischwerdung Christi (Inkarnation),

(6) von der Inkarnation bis zur Wiederkunft Christi (Parusie),

(7) von der Parusie bis zum Ende eines tausendjähriges Reiches Gottes. 

(8) Erst das achte Weltalter werde dann eine Zeit der ewigen Ruhe sein

(Kurt Flasch, Augustin, Einführung in sein Denken, 2. Aufl. 1994, S. 377).

Diese Spekulationen Augustins schienen N. geeignet zu sein, seine Einblicke zu ordnen. 

Wenn er hier vom Beginn des siebten >Jahrtausends< spricht, an dessen Beginn eine nicht

näher erklärte >Ankunft< stehen werde, passt das zu Augustins Geschichtsschema, dem-

zufolge das siebte Weltalter mit der Wiederkunft Christi beginnt.  Unmittelbar nach dem

Kataklysmus tritt in der Schau des N. jener Mann auf den Plan, von dem sich mancher

Christ erhoffen wird, in seiner Person erfülle sich die Verheißung Christi, dass er dereinst

wiederkommen, erneut auf Erden >ankommen< werde, Matthäus Kapitel 24 Vers 30. 

„Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er

sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden vor ihm zusammen-

gerufen werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den

Böcken scheidet. Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur

Linken“,  Matthäus Kapitel 25 Vers 31 und 32.  Dadurch wird es möglich, anschließend ein

>tausendjähriges< Reich Gottes auf Erden zu errichten.  Aber die Frage ist, ob diese mit

der Parusie verbundene Erwartung dann wirklich erfüllt wird.

Aus Vers 1/69 [VII] geht hervor, dass es die Zeit nach Krieg und Kataklysmus sein wird,

in der die Menschheit sich für läuterungsbereit (bußfertig) und fähig halten wird, eine neue

Weltordnung des Friedens [Vorschau VII] zu schaffen, die sich dann aber als instabil und

zerstörerisch erweist.  Diese Zeit nennt N. hier >siebtes Jahrtausend<.

Vom siebten Schöpfungstag heißt es in der Genesis Kapitel 2, dass Gott an diesem Tag

seine Werke vollendete und von ihnen ruhte, und dass er diesen Tag segnete und ihn heiligte. 

Demnach werden die Bewohner des >siebten Jahrtausends< meinen, ihre Zeit sei von Gott in

besonderer Weise gesegnet.  Sie werden hoffen, nun endlich zur Ruhe zu kommen, d.h. den

geschichtlichen Wandel in einer vollkommenen, Gott wohlgefälligen Ordnung abzuschließen. 

Es könnte das >siebte Jahrtausend< wohl auch eine Zeit sein, deren Bewohner wirklich von

Gott gesegnet und vollendet  s i n d  und nicht nur hoffen und meinen, es zu sein.  Doch

dagegen steht, dass erst der  a c h t e  Seraph den >Fall Babylons< verkündet, 8/69 [VII],

und damit den Untergang aller weltlichen Mächte anzeigt, die dem Reich Gottes im Wege

stehen.  Erst der  a c h t e  Schöpfungstag eröffnet eine neue Weltwoche und bringt die

neue Erde und den neuen Himmel, deren Vision die Offenbarung des Johannes Kapitel 21

enthält.  Erst im  a c h t e n  Jahrtausend werde Gottes Wille erfüllt sein, schreibt N. in der

Vorrede an seinen Sohn César.

Anmerkung 2 [Starke Vermehrung der Gegner Christi]  Die sehr starke Vermehrung der Gegner

Christi und seiner Kirche am Beginn des >siebten Jahrtausends< meint zunächst den Vormarsch

des militanten Islam auf Europa, der in der Zeit nach dem Kataklysmus einsetzt, 6/54 [VI].

Hauptsächlich aber ist mit der sehr starken Vermehrung der Gegner Christi gemeint, dass der

>neue Heilige<, 10/30 [IX], der in dieser Zeit auf Erden >angekommen< ist und sich später als

Gegner Christi und seiner Kirche entpuppt, eine sehr zahlreiche Anhängerschaft haben wird,

8/21 Vz 3.

 

 

         VH (7)  =  Vorrede an Heinrich II., Abschnitt (7)

      Bedingungen der Wahrheit prophetischer Rede  -  Berechnungen im Geist der Minerva

         Text   le tout a esté compose & calculé en iours & heures d’ election & bien disposees,

                   & le plus iustemêt qu’ il ma esté possible.  Et le tout Minerva libera, & non invita (a),

                   supputant presque autant des aduentures du temps auenir, comme des ages passez,

                   comprenât de present, & de ce que par le cours du temps par toutes regiôs l’ on cognoistra

                   aduenir tout ainsi nommement comme il est escrit, n’ y meslant rien de superflu,

                   combine que l’ on dit: Quod de futuris non est determinate omnino veritas.

                   Il est bien vray, Sire, que pour mon naturel instinct qui m’ a esté donné par mes auites (b)

                   ne cuidant presage, adioustant & accordant iceluy naturel instinct auec ma longue

                   supputation vny, & vuidant (c) l’ ame, l’ esprit, & le courage de toute cure, solicitude,

                   & fascherie par repos & tranquilité de l’ esprit.  Le tout accordé & presage I vne partie

                   tripode aeneo.  Combien qu’ ils sont plusieurs qui m’ attribuent ce qu’ est autant à moy,

                   comme de ce que n’ est  rien, Dieu seul eternel, qui est prescrutateur (d) des humains

                   courages (e) pie, iuste, & misericordieux, en est le vray iuge,

(a) Horaz sagt in der Ars poetica Vz 385, dass der Dichter seine Kräfte kennen und

nichts versuchen solle, was über sein handwerkliches Können geht und damit eine

Sünde „wider den Willen“ oder „gegen den Geist der Minerva“ (Minerva invita) wäre.

(b) Lat. Adj. avitus großväterlich, großmütterlich, hier als Substantiv gebraucht.

(c) Mittelfrz. v. vuider ausräumen (dégarnir), entleeren (rendre vide)

(d) prescrutateur ist gebildet nach dem lat. n.m. scrutator Untersucher

(e) Mittelfrz. n.f. courage Neigungen der Seele (dispositions de l‘ âme), Neigungen

des Geistes (dispositions de l‘ esprit)

Und das Ganze ist zusammengestellt und berechnet worden in ausgewählten Tagen

und Stunden, die dazu geeignet waren, und zwar so sachgerecht, wie ich es nur konnte.

Das Ganze geschah mit Hilfe der freien Minerva, nicht gegen ihren Geist [4], und ich

berechnete fast ebenso viele Begebenheiten der Zukunft wie vergangener Zeiten,

eingeschlossen der Gegenwart, von denen man im Lauf der Zeit in allen Gegenden

erkennen wird, dass es bis ins Einzelne so kommt, wie es geschrieben steht.

Ich mischte nichts Überflüssiges hinein, wie oft man auch deshalb das Sprichwort zitieren

mag: >Was die Zukunft angeht, so gibt es keine gänzlich feststehende Wahrheit< [2].

Das ist wohl wahr, Sire, und ich behaupte nicht, allein aus der natürlichen Eingebung,

die ich von meinen Vorfahren [1] ererbt habe, zu weissagen, sondern ordne natürliche

Eingebungen und bringe sie in Übereinstimmung mit ausführlichen und systematischen

Berechnungen [4], und lasse dabei Seele, Geist und Wille ganz frei werden von Sorge,

Bemühung und Ärger, um Ruhe und Stille zu finden für den Geist.  Alles ist in Über-

einstimmung gebracht und vorhergesagt zum Teil mit Hilfe des ehernen Dreifußes.

Mag es auch viele geben, die urteilen, es komme nur aus mir selbst, so ist daran doch

nichts [3], (das weiß) der alleinige ewige Gott, der die Herzen der Menschen prüft,

treu, gerecht und barmherzig und dadurch der wahre Richter ist.

Anmerkung 1 [Vorfahren]  Seine Vorfahren väterlicherseits gehörten zu den in Spanien

ansässigen, dort von der Inquisition bedrohten und zur Emigration genötigten Juden;  sein

Vater war bereits zum christlichen Glauben übergetreten.  Bei den Vorfahren mütterlicherseits,

zu denen ebenfalls spanische Juden gehörten, war des Öfteren eine Neigung und Begabung

für Mathematik und Astronomie aufgefallen, welche N. teilt.  Das prophetische Charisma

ist dagegen wohl nicht vererbbar.  Ihren biographischen Ursprung scheint diese Begabung

erst in der tiefen Existenzkrise gehabt zu haben, die der angesehene und erfolgreiche,

in Agen niedergelassene Arzt erleidet, als er den Tod seiner Familie an einer unbekannten

Seuche (wahrscheinlich der Diphtherie) nicht verhindern kann und daraufhin mehrere Jahre

als fahrender Arzt umherzieht.

Anmerkung 2 [Eherner Dreifuß/ Quod de futuris]  Die antike, von Apoll begabte Priesterin

in Delphi saß auf einem ehernen Dreifuß, wenn sie sich in Trance versetzen ließ.  Die Echtheit

ihrer Teilhabe an dem Willen und der Weisheit Apolls war so unumstritten, wie die zutreffende

Deutung ihrer Schicksalssprüche schwierig war.  Indem er die Hilfe des „ehernen Dreifußes“

beansprucht, behauptet N., wie die Pythia über echte prophetische Begabung zu verfügen,

deren Resultate ähnlich schwer zu deuten seien.  Da es Menschenmaß übersteigt, etwas

Sicheres über die Zukunft sagen zu können, gehört es zur Logik von Orakeln aller Art, dass

sich ihr Urheber auf die Teilhabe an göttlichem Wissen berufen muss.  Dass Menschen von

der Zukunft nichts Bestimmtes wissen können, weil das Zukünftige selbst nicht feststehe,

will die lateinische Sentenz besagen, und N. stimmt dem bei.  Doch gilt dieser Satz nur für

die Menschen, während Gott die Zukunft kennt und einweihen kann, wen er will.  Nur wenn

das geschieht,  k a n n  es überhaupt Seher und Propheten geben;  aber dann  s o l l  es sie

von Gott her auch geben. 

Anmerkung 3 [Bedingungen der Wahrheit prophetischer Rede]  Zu den Bedingungen dafür,

dass Prophetie sich bewahrheitet, gehört die Redlichkeit des Berufenen.  N. schildert, dass

er nur seine besten Stunden auf die Ausübung seines Charismas verwendet habe und das

Organ für die ihm gewährten Einblicke möglichst rein gehalten habe.  Er habe seine Begabung

nicht für eigene Zwecke missbraucht, sie nicht durch „Hineinmischen von Überflüssigem“

verunreinigt.  Für die Glaubwürdigkeit dieser Behauptung spricht, dass die Vorhersagen

überwiegend Zeiten jenseits seiner eigenen Lebensfrist betreffen, VH (8). 

Doch Redlichkeit ist eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung dafür, dass

das Erschaute auch wirklich eintrifft.  Als wahr kann sich das Wort von Sehern und Propheten

nur erweisen, wenn es göttlicher und nicht dämonischer Herkunft ist.  Es müsste den Blick-

winkel dessen erkennbar werden lassen, der im äußeren Geschehen dessen heilsgeschicht-

liche Bedeutung erklären kann.  Nur manchmal ist bei N. diese >Perspektive des Himmels<

erkennbar, so etwa, wenn Vers 1/96 [VIII] andeutet, warum der Himmel ein verbrecherisches

Regime gewähren lässt.

Schließlich gehört zu den Bedingungen dafür, dass Prophetie sich erfüllt, auch immer, dass

jene ihr keinen Glauben schenken, deren politisches Wirken und Handeln sie widerspiegelt.

Denn würde Prophetie ernst genommen, hätte sie Einfluss auf das Geschehen, und das

Prophezeite würde nicht mehr notwendig eintreffen.  Prophetie ist nur möglich,  weil die

Mehrzahl der Menschen sie für unglaubwürdig hält.  So ist die Existenz von Propheten an

sich schon ein Zeichen für die Gottferne der Menschen.  Und umgekehrt: Wer den Willen

Gottes ernst nimmt, braucht keine Prophetie.

Anmerkung 4 [Berechnungen im Geist der Minerva]  Seine „langwierigen Berechnungen“

hätten N. in die Gefahr des Hineinmischens von Eigenem, Überflüssigem gebracht,

verstünde man darunter das Wahrsagen von Ereignissen aus den Konstellationen der

Wandelsterne in der Manier der Astrologen.  Dies tut er aber gerade nicht, fordert vielmehr

in seinem Bannspruch am Ende der sechsten Centurie die Astrologen auf, sich von seinem

Werk fernzuhalten, weil es mit Astrologie nichts zu tun habe.  Seine Berechnungen

entspringen dem Wunsch, die Vielzahl seiner Intuitionen zeitlich zu ordnen, sie auf die

Reihe zu bringen.  Möglich wurden diese Berechnungen erst dadurch, dass die Visionen

zumeist „begleitet (waren) vom Lauf der Gestirne“, VH (11), die Planeten und ihre Positionen

mithin Bestandteil seiner Schau waren.  Dadurch konnte er in Anwendung seiner astronomi-

schen Kenntnisse anschließend nachrechnen, wann die erschauten Vorgänge eintreffen

würden.  Beispiele für diese „judizielle Astrologie“, wie er sie in der Vorrede an Sohn César

nennt, bieten Vers 1/51 (Kap.35) und VH (33);  dort verweist die Angabe von Gestirnständen

auf die Jahre 1940/41 sowie 1606.  In diesem Zusammenhang will der Hinweis auf Minerva,

zuständig für Handwerker, Künstler und Dichter, besagen, dass N. seine Fähigkeiten nicht

überzogen habe, sich nichts angemaßt habe, was über sein astronomisches Wissen und

Können gegangen und daher eine Sünde gegen der Geist der Minerva gewesen wäre.

 

 

         VH (8)  =  Vorrede an Heinrich II., Abschnitt (8)

      Gottesgnadentum der Könige  -  Nichts gegen den wahren katholischen Glauben

         Text   auquel ie prie qu‘ il me vueille defendre de calomnie des meschans, qui voudroyent

                   Aussi calomnieusement s‘ enquerir pour quelle cause tous vos antiquissimes progeniteurs

                   Rois de France ont guery des escrouelles, & des autres nations ont guery de la morsure

                   des serpens les autres ont eu certain instinct de l’ art diuinatrice, & d’ autres cas qui seroyent

                   long ici à racompter.  Ce nonobstant ceux à qui malignité de l’ esprit malin ne sera comprins

                   par le cours du temps après la terrenne mienne extinction, plus sera mon escrit qu’ a mon

                   viuant, ce pendant si à ma supputation des ages ie faillois ou ne pourroit estre selon la

                   volonté d’ aucuns.  Plaira à vostre plus qu’ imperialle maiesté me pardoner, protestant (a)

                   deuant Dieu & ses Saincts, que ie ne pretend de mettre rien quelconque par escrit en

                   la presente epistre, qui soit contre la vray foy Catholique, conferant les calculations

                   Astronomiques, iouxte mon sauoir:

                            (a) Mittelfrz. v. protester schwören (jurer), feierlich erklären (déclarer de manière solennelle)

Zu ihm bete ich, er möge mich verteidigen gegen die Verleumdung der Boshaften,

die in ähnlich verleumderischer Absicht nach der Ursache dafür suchen würden,

dass alle Eure ältesten Vorfahren als Könige von Frankreich die Skrofulose heilten [1],

die Könige anderer Nationen Schlangenbisse heilten und wieder andere eine gewisse

natürliche Begabung zur Weissagung hatten und noch anderes mehr, was hier zu

weit führen würde.  Trotz jener, deren Boshaftigkeit schlimmer nicht sein kann,

wird meine Schrift im Laufe der Zeit besser verstanden, nach meinem irdischen

Verlöschen mehr gelten als zu meinen Lebzeiten [2], auch wenn ich bei meiner

Berechnung der Zeitalter Fehler gemacht haben oder es nicht verstanden haben

sollte, den Wünschen der Leser zu entsprechen.  Es wird Eurer mehr als kaiserlichen

Majestät gefallen, mir zu vergeben, wenn ich vor Gott und den Heiligen feierlich

erkläre, im vorliegenden Brief nichts zu Papier zu bringen, was gegen den wahren

katholischen Glauben wäre [3], auch nicht, indem ich astronomische Berechnungen

mit meinem Wissen verbinde.

Anmerkung 1 [Heilungswunder]  Skrofulose war der Name einer früher nicht heilbaren

Tuberkulose der Haut und der Lymphknoten.  Daran Erkrankte zu berühren, um sie zu heilen,

gehörte zum Krönungszeremoniell der Könige von Frankreich, zuletzt unternommen im Juni

1775 von Ludwig XVI., der ein redlicher, im Glauben fester Mann war. Heilkraft wurde dem

frisch gesalbten und gekrönten König als Zeichen der ihm zuteil gewordenen Gnade Gottes

zugetraut.  Wer „in verleumderischer Absicht“ die Zeremonie und ihren Erfolg untersucht,

will das Gottesgnadentum der Könige und den Glauben in Frage stellen.  Es seien Ungläubige

und Gegner der Monarchie, die so etwas tun, und das seien dieselben, die ihn angriffen,

behauptet N.  Er bezichtigt die Gegner seiner Prophetie pauschal des Unglaubens.  Das ist

ein grober Keil, von dem man aber annehmen darf, dass er auf ebenso grobe Klötze gesetzt

wird.  N. lebt in einer Zeit, die auch wegen der noch frischen Spaltung der Kirche zu

Differenzierungen in Glaubensfragen nicht aufgelegt ist.  Man meint bei jeder Einzelfrage,

dass es immer gleich um das Ganze gehe.  Die gelassene Haltung des Kaisers Karl V.,

für den 1530 „die Lutherischen nicht so teuflisch sind, wie vorgebracht ist“, wird damals

selten eingenommen.  Es bleibt festzuhalten, dass N. sich als Anhänger des Gottesgnadentums

der Könige erweist.

Anmerkung 2 [Nachruhm]  Nach seinem Tode werde man ihn besser begreifen und höher

schätzen als zu Lebzeiten.  Bis heute (2010) ist das nicht wirklich eingetroffen, denn das

Jahrmarktsgeschrei, auch in den Bücherregalen, missbraucht den Namen Nostradamus nur

als willkommene Projektionsfläche, hat aber mit einer Wertschätzung der Inhalte nichts

zu tun.  Aber Vers 3/94 [XV] zufolge werde auch erst nach fünfhundert Jahren (von 1555

an gerechnet), also in der Mitte des 21. Jahrhunderts, schlagartig jene Klarheit herrschen,

von der N. sich seinen Nachruhm erwartet.

Anmerkung 3 [Kirchengehorsam]  Dass er manche Wünsche, die man an die Zukunft knüpfen

mag, wohl nicht erfüllen könne, ist blanke Ironie, die Gegnern pauschal Befangenheit im

Subjektiven unterstellt, während es doch klar sein müsse, dass er als Seher in der Nachfolge

seiner biblischen Vorgänger, VH (11), niemandem außer Gott zu gefallen den Wunsch haben

könne.  Die Angriffe gegen seine Gegner dienen wie die ausgiebigen Bibelzitate, VH (9), dem

einen Ziel, sich als kirchentreuer, über allen Verdacht erhabener Katholik zu präsentieren. 

Wenn diese Selbstdarstellung hier demonstrativ überzogen wirkt und sicher auch dem Schutz

der eigenen Person dient, sollte das aber nicht zu falschen Schlüssen verleiten.  Man kann

bei der Lektüre seiner Schrift auch an manch unscheinbarem Ort, z.B. in 1/31 (Kap.38),

den Eindruck gewinnen, dass des Sehers Kirchentreue und sein Christenglaube echt gewesen

sind.  Neben der Zukunft seines Heimatlandes ist es vor allem das Schicksal der katholischen

Kirche, das ihm am Herzen liegt und seinem visionären Blick die Richtung vorgibt.

 

 

         VH (9)  =  Vorrede an Heinrich II., Abschnitt (9)

      Biblische Zeittafel (I)  -  Varro und Eusebius  -  Verführung der Sarazenen

         Text   car l‘ espace de temps de nos premiers, qui nous ont precedez sont tels, me remettant

                   sous la correction du plus sain iuegment, que le premier home Adam fut deuant Noé

                   nuiron mille deux cens quarante deux ans, ne computant les temps par la supputation

                   des Gentils (a), comme a mis par escrit Varron:  mais tant seulement selon les sacrees

                   Escriptures, & selon la foinlesse de mon esprit, en mes calculations Astronomiques. 

                   Apres Noe, de luy & de l vniuersel deluge, vint Abraham enuiron mille huictante ans,

                   lequel a esté souuerain Astrologue (b), selon aucuns, il inuêta (c) premier les lettres Chaldeiques: 

                   apres vint Moyse enuiron cinq cens quinze ou seize ans, & entre le temps de David & Moyse,

                   ont esté cinq sens quinze ans là enuiron.  Puis après entre le temps de Dauid, & le temps

                   de nostre sauueur & redempteur Jesus Christ, nay de l’ vnique Vierge, ont esté (selon aucuns

                   Cronographes) mille trois cens cinquâte ans:  pourra obiecter quelqu’ vn ceste supputatiô n’ ester

                   veritable, pource qu’ elle differe à celle d’ Eusebe.  Et depuis le temps de l’ humaine redemption

                   iusques à la seduction detestable des Sarrazins, s’ ont esté six cens & un an, là enuiron.

(a) Lat. n.m. gentiles Heiden

(b) Das mittellat. n.f. astrologie bedeutete die Lehre von den Bewegungen der Wandelsterne,

aber auch die Deutung ihres Einflusses auf das Schicksal der Menschen, und ein

astrologue widmete sich Beidem.

(c) Mittelfrz. inventer finden, entdecken (découvir), auf etwas kommen (s‘ aviser de)

Es waren nämlich die Zeiträume unserer ersten Vorfahren die folgenden, wobei ich mich

der Korrektur durch das heiligste Urteil unterstelle.  Der erste Mensch Adam lebte etwa

1242 Jahre vor Noah, dies aber nicht nach der Rechnung der Heiden, wie sie Varro [1]

niedergelegt hat, sondern ganz allein nach der Heiligen Schrift und, sofern es die

Schwäche meines Geistes zulässt, nach meinen astronomischen Berechnungen.

Etwa 1080 Jahre nach Noah und der weltweiten Sintflut kam Abraham, welcher ein

sehr fähiger Astronom war und Manchen zufolge die chaldäische Wissenschaft entdeckte.

Etwa 515 oder 516 Jahre später kam Moses, und zwischen der Zeit Davids und Moses‘

sind es etwa 570 Jahre gewesen.  Dann lagen zwischen der Zeit Davids und der Zeit

unseres Retters und Erlösers Jesus Christus, geboren von der einzigartigen Jungfrau,

1350 Jahre (einigen Chronisten zufolge).  Man wird einwenden können, diese Rechnung

sei nicht wahrheitsgetreu, weil sie von jener des Eusebius [1] abweiche.  Und von der

Zeit der Erlösung des Menschen bis zur abscheulichen Verführung der Sarazenen [2]

sind ungefähr 621 Jahre vergangen.

Anmerkung 1 [Varro und Eusebius]  N. ergänzt in diesem Abschnitt sein soeben vorgetragenes

Bekenntnis der Treue zum katholischen Glauben, indem er sich der obersten Autorität Roms

in Auslegungsfragen unterwirft.  Wie das einleitende Wörtchen „nämlich“ zeigt, will er

vor allem seinen Gehorsam unterstreichen, indem er die Berechnung der seit der Erschaffung

Adams verstrichenen Zeit ausschließlich auf die Heilige Schrift gründet und einen Gelehrten

wie den Römer Marcus Terrentius Varro wegen seines Heidentums demonstrativ ablehnt.

In Wahrheit geht es ihm also gar nicht um diese Zählung selbst, erkennbar auch daran,

dass der Einwand, seine Rechnung weiche ab von der des Eusebius, zwar vorgetragen,

aber nicht diskutiert wird.  Eusebius von Cäsarea (263 bis 339) verfasste eine Geschichte

der Kirche und dient hier wohl lediglich dazu, Gelehrsamkeit durchblicken zu lassen.

Anmerkung 2 [Verführung der Sarazenen]  Im Mittelalter heißen die nach Europa und Afrika

vorgedrungen Muslime auch Sarazenen, womit hier die Anhänger Mohammeds überhaupt

gemeint sind.  Dessen Auszug aus dem im Polytheismus (Vielgötterei) befangenen Mekka

markiert den Beginn der islamischen Zeitrechnung.  Indem er die Begründung des Islam als

abscheuliche Verführung bezeichnet, will N. erneut seine stramm katholische Gesinnung

unter Beweis stellen und gibt sich als Kind seiner Zeit zu erkennen, die erst mühsam und

unter viel Blutvergießen lernt, wie das Wort Toleranz buchstabiert wird.

 

 

         VH (10)  =  Vorrede an Heinrich II., Abschnitt (10)

      Notwendigkeit der Verdunklung  -  Möglichkeit der Deutung

         Text   depuis en ca l‘ on peut facilement colliger (a) quel temps sont passez, si la miêne supputation

                   n’ est bonne & valable par toutes nations, pource que le tout a esté calculé par le cours

                   celeste, par association d’ esmotiô infuse à certaines heures delaissees par l’ esmotion

                   de mes antiques progeniteurs:  Mais l’ iniure (b) du temps, ô serenissime Roy, requiert

                   que tels secrets euenemens ne soyent manifestez, que par aenigmatique sentence,

                   n’ ayant qu’ vn seul sens, & unique intelligence (c), sans y auoir rien mis d’ ambigue

                   n’ amphibologique calculation.

                            (a) Mittelfrz. v. colliger zusammenstellen, versammeln (rassembler)

                            (b) Mittelfrz. n.f. injure Ungerechtigkeit (injustice), Unrecht (tort), Kränkung (offense)

                            (c) Mittelfrz. n.f. intelligence auch: Sinn, Verständnis von Worten (compréhension)

Von da an kann man nach all dem leicht zusammenstellen, welche Zeiten verstrichen sind,

ob meine Berechnung gut und für alle Nationen gültig ist [1], der zufolge alles nach dem

Lauf der Sterne kalkuliert ist zusammen mit der Erschütterung, die in bestimmten

einsamen Stunden in mich einströmte, jener Erschütterung, mit der schon meine antiken

Vorgänger geschlagen waren.  Doch die Ungerechtigkeit der Zeit, o huldreichster König,

erfordert, dass solche geheimen Ereignisse nicht anders als in rätselhaftem Sinnspruch

zum Vorschein kommen [2], der aber nur einen einzigen Sinn und eine einzige Bedeutung

und nichts von zweideutiger oder doppelsinniger Berechnung hat [3].

Anmerkung 1 [Biblische Autorität ?]  Die dem heiligen Malachias de 12. Jahrhunderts

zugeschriebene Päpsteweissagung geht auf einen Autor des 16. Jahrhunderts zurück,

der prophetisch begabt war, aber meinte, seine Sinnsprüche um >bereits erfüllte Weis-

sagungen< nach rückwärts ergänzen zu sollen, um ihre Glaubwürdigkeit zu heben

(Troll, Hildebrand, Die Papstweissagug des heiligen Malachias, Aschaffenburg1985). 

Wenn N. von seiner Aufreihung der Lebensalter biblischer Gestalten, VH (9), sagt,

dass sich seine Berechnungen auch auf diese vergangenen Zeiten bezögen, will er ihnen

damit die gediegene Glaubwürdigkeit der Bibel verleihen und versucht wie der Autor

der Päpsteweissagung, die eigene Autorität mit einem zweifelhaften Mittel zu stärken.

Denn auch wenn die Jahresangaben korrekt im Sinne der Übereinstimmung mit Rom

abgezählt sein sollten, und auch wenn er aus Konstellationen vergangener Zeiten seine

Schlüsse gezogen haben mag, folgt daraus nicht, dass seine „astronomischen Kalkula-

tionen“ auch für die Zukunft richtig sind.  Um die Glaubwürdigkeit seiner Schrift zu

erhöhen, müsste der Autor der Centurien  i n h a l t l i c h e  Parallelen zwischen

eigener und biblische Prophetie aufzeigen.  Sein Versuch, sich das Gewand biblischer

Autorität anzulegen, ist also untauglich und zudem überflüssig.  N. ist selbst Urheber

einer Prophetie, der für die Anerkennung des von ihm >Gehobenen< nichts tun kann,

vielmehr genug daran tut, es zur Verfügung zu stellen.  Einer Bestätigung von außen

bedarf seine Prophetie nicht;  sie kann eintreffen, o b w o h l  seine Beweisführung

unter Berufung auf die Bibel scheitert.  Mit ihr zugleich scheitert die Meinung über

Nostradamus als dem begnadeten Hochstapler, der alle Welt narrt, denn sein Vesruch,

die eigene mit fremder Autorität zu stärken, ist durchschaubarer als der seines Zeit-

genossen, und er geht dabei weniger dreist zu Werk als der Autor der Päpsteweissagung.

Anmerkung 2 [Notwendigkeit der Verdunklung]  Dass es Neider und Denunzianten gab, war

e i n  Grund, sich unklar und mehrdeutig auszudrücken, denn im Klartext hätte Manches

Anstoß erregt bei den weltlichen Herren und mehr noch bei der kirchlichen Autorität, VH (5).

Das bedauert N. als eine Ungerechtigkeit seiner Zeit und scheint dabei zu verkennen,

dass echte Propheten und Seher zu allen Zeiten unbeliebt sind, weil sie Dinge sagen, die

die meisten Menschen nicht hören wollen. 

Anmerkung 3 [Möglichkeit der Deutung]  Trotz des Anscheins der vielfachen Deutungsmöglichkeit

haben seine Texte aber nur jeweils  e i n e n  Sinn, sagt N. unmissverständlich.  Das Gemeinte ist

Eines und nicht beliebiges Vieles. Das teilt hier der Autor, des das ja wissen muss, ganz klar mit.

Wer also der Ansicht ist, es könne und dürfe jeder das Gewünschte herauslesen, ist im Irrtum

(sollte aber nicht bedrängt werden, von seinem Irrtum zu lassen).  Wer dagegen vermutet,

es müsse neben den vielen Fehldeutungen doch auch eine jeweils zutreffende Deutung geben,

die zu dem wirklich Gemeinten vordringt, darf sich ermuntert fühlen, auf die Suche zu gehen.

 

 

         VH (11)  =  Vorrede an Heinrich II., Abschnitt (11)

      Selbstverständnis  -  Vision und Wort

         Text   mais plustost sous obnubilee (a) obscurité par vne naturelle infusion approchant à la sentence

                   d’ vn des mille & deux Prophetes, qui ont esté depuis la creation du monde, iouxte la supputation

                   & Chronique punique de Ioel, Effundam spiritum meum super omnem carnem & prophetabunt

                   filii vestri, & filiae vestrae.  Mais telle prophetie procedoit de la bouche du sainct Esprit,

                   qui estoit la souueraine puissance eternelle, adioncte auec la celeste à d’ aucuns de ce nombre

                   ont predit de grandes & esmerueillables aduentures:  May en cest endroict ie ne m’ attribue

                   nullement tel tiltre.  ja (b) à Dieu ne plaise, ie confesse bien que le tout vient de Dieu,

                  & luy en rends graces, honneurs, & louange immortelle, sans y auoir meslé de la diuination

                   que prouient à fato (c):  mais à Deo, à natura, & la pluspart accompagnee du mouuement du

                   cours celeste, tellement que voyant comme dans un miroir ardant, comme par vision obnubilee,

                   les grands euenements tristes, prodigieux, & calamiteuses aduentures qui s’ approchent

                   par les principaux culteurs.

                            (a) Altfrz. v. obnubiler mit Wolken bedecken, verdunkeln > lat v. obnubilare verhüllen

                            (b) Mittelfrz. Adverb ja schon, bereits (déja), sofort, gleich (tout à l‘ heure)

                            (c) Lat. n.n. fatum Götterspruch, Schicksal, Verhängnis > lat. v. fari sprechen

Nur in nebligem Dunkel bei natürlichem Einfließen nähere ich mich dem, was einer von

tausendundzwei Propheten, die es seit der Erschaffung der Welt gegeben hat, der Zählung

und punischen Chronik [2] zufolge, (nämlich) Joel sagte:  „Ich will meinen Geist über alles

Fleisch ausgießen, und es werden weissagen eure Söhne und Töchter." [1] Doch solche

Prophetie ging aus dem Munde des Heiligen Geistes hervor, der unumschränkten, ewigen

Macht, und mit dieser himmlischen (Macht) verbunden, haben einige aus der Zahl

(der Propheten) große und wunderbare Begebenheiten vorausgesagt.  Mir lege ich hier

keinesfalls einen solchen Titel zu [3], das mißfiele Gott sogleich, von dem, ich bekenne es

wohl, alles kommt, dem ich dafür Dank, Ehre und ewiges Lob erweise, und in dessen

Sehergabe ich nichts hineingemischt habe, was von einem Schicksalsspruch herrührt [3].

(Es kommt) vielmehr (alles) von Gott, von der Natur, das Meiste begleitet vom Lauf der

Gestirne derart, dass ich wie durch einen Brennspiegel, wie vernebelten Blicks die

traurigen, ungeheuerlichen Ereignisse und unheilvollen Irrfahrten sehe, die herannahen

durch die fürstlichen Landpfleger [4].

Anmerkung 1 [Joel-Zitat]  N. stellt sich hier in die Reihe der alttestamentarischen Propheten.

So wie die wahren Propheten Gottes an dessen Geist, der in sie eingegossen wurde, ihren

Anteil hatten, versteht auch er seine „natürliche Eingebung“ als das „Einfließen“ des Heiligen

Geistes.  Das Joel-Zitat dient N. als Beleg dafür, dass immer und überall Seher und Propheten

aufstehen können, die Menschen sich also nicht wundern sollen, wenn das geschieht.

Mancher mag einwenden, dass die Ankündigung Joels durch die Pfingstereignisse, über die

in der Apostelgeschichte Kapitel 2 berichtet wird, schon erfüllt sei.  Aber das Joel-Zitat

(Joel Kapitel 3 Vers 1) steht in apokalyptischen Zusammenhang (Joel Kapitel 3 Vers 3 bis 5)

und ist damit zeitlich nicht eingrenzbar, weil die biblische Apokalyptik keine Zeiten angibt.

In den Ereignissen nach der Himmelfahrt Christi erfüllt sich die Ankündigung Joels, ohne

sie geschichtlich auszuschöpfen. 

Anmerkung 2 [Punische Chronik]  Eine „punische Chronik“, aus der hervorgeht, dass es 1002

Propheten gegeben habe, ist nicht bekannt geworden.  Über Nordafrika, wo in der Antike

die Punier siedelten, sind Elemente der morgenländischen Kultur nach Europa gekommen.

Dazu gehören die Märchen von Sindbad dem Seefahrer, von Aladin mit der Wunderlampe und

anderen Gestalten des Orients, die Märchen aus tausendundeiner Nacht.  Was er, Nostradamus

zu sagen habe, sei ja vielleicht nur ein weiteres Märchen dieser Art, deutet er an.  Ernst meint

er das freilich nicht, sondern will mit hintergründigem Humor zu verstehen geben, dass wohl

Mancher seine Schrift so auffassen und abtun werde.  Er lacht über die, die über ihn lachen,

weil er weiß, dass er keine Märchen erzählt.

Anmerkung 3 [Vision und Wort]  Dass N. nicht Prophet genannt werden will, ist mehr als

eine Geste der Demut.  Im Unterschied zu den biblischen Propheten, deren Rede seiner

Meinung nach unmittelbar „aus dem Munde des Heiligen Geistes hervorging“, ist  e r 

n i c h t  unmittelbar Sprachrohr Gottes, gibt keine Verbalinspiration (Worteingebung)

wieder.  Er versteht sich vielmehr ausdrücklich als Seher mit Visionen, die in Worte erst

übersetzt werden müssen, wenn davon etwas mitgeteilt werden soll.  Dabei habe er in die

Sehergabe nichts hineingemischt, „was von einem Schicksalsspruch herrührt“.  Was von

einem Schicksalsspruch herrührt, ist dessen Deutung, die mehr oder weniger sicher ist

und daher bezweifelt werden kann.  Er scheint ernstlich zu behaupten, bei der Übertragung

seiner Visionen in Worte die Visionen nicht gedeutet zu haben, >nur das wiederzugeben, was

er gesehen hat<.  Er meint damit nur, dass er ehrlich war, nichts aus Eigenem hinzugefügt

oder gefälscht hat, gibt damit aber auch zu erkennen, dass er den Prozess, der aus Visionen

Vierzeiler werden ließ, nicht reflektiert hat.  Wer Bilder beschreibt und ihren Inhalt wiedergibt,

kann gar nicht anders, als sie zu deuten, d.h. sie einzuordnen in sein vorher schon vorhan-

denes Wissen und seine schon gemachten Erfahrungen.  So hat auch N. sich seine Visionen

vor dem Hintergrund seiner persönlichen Bildung, seines geschichtlichen Wissens, seiner

politischen Überzeugung und vor allem seines Glaubens zu erklären versucht, ohne sich

und seinen Lesern darüber sonderlich Rechenschaft zu geben.  Um so mehr muss, wer die

Texte begreifen will, die Erklärungsmuster herausarbeiten, die dem Seher sein Weltbild

nahelegte.

Anmerkung 4 [Fürstliche Landpfleger]  Dazu geben die „fürstlichen Landpfleger“ gleich

Gelegenheit.  Im Gleichnis vom Weizen und vom Unkraut (Matthäus Kapitel 13 Vers 24 bis 30,

36 bis 43) bedeutet >der Acker< die Welt.  „Der gute Same, das sind die Kinder des Reichs,

und das Unkraut sind die Kinder des Bösen“.  Dieser >Acker< ist verflucht um der Sünde

Adams willen (Genesis Kapitel 3 Vers 17), und doch kann in ihm das Himmelreich gleich

einem verborgenen Schatz gefunden werden (Matthäus Kapitel 13 Vers 44).  Die Fürsten

sind von Gott eingesetzt, VH (8), den Acker zu bestellen, dem Unkraut zu wehren, das

Wachstum des Weizens zu fördern.  Damit haben sie eine dienende Aufgabe wie ihre

Untertanen.  Schießt nun allerorten, bei Herrschern wie Dienern, die Herrschlust ins Kraut,

werden deshalb am Ende gar die Herrscher von ihrem Acker vertrieben, werden die

„traurigen Ereignisse“ heraufbeschworen, die der Seher erschaute und deren Grund er sich

so erklärt.  In der Vertreibung der Könige und Fürsten von der Spitze der gottgewollten

Ordnung erkennt N. die >Urkatastrophe< der modernen Gesellschaften.  Belege dafür bieten

im historischen Teil die Kapitel 8 und 9 für die britische, das Kapitel 17 für die französische

und das Kapitel 33 für die spanische Monarchie.  Die lange >Unfruchtbarkeit< der Christenheit,

von der gleich anschließend die Rede ist, weist in die gleiche Richtung.