Kapitel 28 Griechischer Freiheitskampf
Die >Türkengefahr< ist in Nostradamus´ Jahrhundert höchst
brisant; 1529 haben erstmals osmanische Heere vor Wien gestanden,
1571 werde eine vereinte abendländische Flotte einen großen
Seesieg über die Türken erringen, 5/95 (Kap.1). Zum Konflikt
zwischen Orient und Okzident gehört die religiöse Konkurrenz,
die von den Katholiken des 16. Jahrhunderts mit ihrer in die
Defensive geratenen Religion Aufmerksamkeit verlangt. Die Frage,
wie das Ringen ausgehen werde, wird daher zu einem Interessen-
schwerpunkt des Sehers. In diese Ereignisfolge gehört der Auf-
stand der christlich orthodoxen Griechen gegen die islamischen
Türken im Jahrhundert des Nationalismus.
Auszug aus dem historischen Inhaltsverzeichnis
05/90 Die Philhellenen Europas unterstützen den Aufstand
04/39 Die Griechen rufen um Hilfe, die Westmächte richten die Sache
Die Philhellenen Europas unterstützen den Aufstand
05/90 Dans les cyclades, en perinthe & larisse,/ Dedans Sparte tout le Peloponnesse:/ Si grand famine, peste par faux connisse,/ Neuf mois tiendra & tout le cheronnesse. (1568)
Auf den Zykladen, in Perinth und Larisa,/ In Sparta, auf der ganzen Peloponnes/ sehr schwere Hungersnot, Seuche durch falsche Freunde./ Neun Monate wird sie anhalten und die ganze Halbinsel (erfassen).
3) connisse steht, um den Reim zu erfüllen, und wird hier aufgefasst als Abwandlung von connaissance Bekannter, Freund. 4) Griech. n.f. chersonesos Halbinsel. So hieß insbesondere die Halb- insel Gallipoli (thrakische Chersones) und die Krim (taurische Chersones).
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Vz 1/2 [Ort des Geschehens] Die Zykladen, Larisa, Sparta und der Peloponnes sind heute
griechisch, Perinth am Marmarameer ist türkisch.
Vz 3 [>Hungersnot< und >Seuche< durch falsche Freunde] Beide Begriffe sind hier Metaphern,
wie oft bei N., s. Glossar unter -> faim und -> peste. Die Not der Griechen ist ihre Abhängigkeit
von der Oberhoheit der Osmanen, ihr >Hunger< ist der Hunger nach Freiheit. Mit der >Seuche<
sind die Ideen von Selbstbestimmung der Nation, Demokratie und Freiheit gemeint, die damals
in Griechenland >zum Ausbruch kommen< - N. hält die Idee der Demokratie für krankhaft und
für eine Erscheinung des Niedergangs der Völker. Die Idee der griechischen Freiheit hat aber
in Europa viele Sympathisanten, weil manche Völker, besonders Deutsche und Italiener, ihre
Nation als geknechtet empfinden. Manch Philhellene (Griechenfreund) geht sogar selbst in das
Land der antiken Demokratie und der Knabenliebe, um den Aufstand zu fördern. Aber erst nach
der Besetzung des Peloponnes durch den ägyptischen Vasallen des Sultans in den Jahren
1824/25 greifen die Großmächte 1827/28 zugunsten der Griechen ein, 4/39 (s.u.). In den Jahren
1829/30 dann Friedensschluss mit griechischer Souveränität.
Vz 4 [neun Monate] Der Konflikt hat 1821 begonnen, und somit dauert er neun J a h r e, nicht
neun Monate, es scheint nicht zu passen. Aber auch die >neun Monate< sind metaphorisch
gemeint, sie rufen das Bild der Schwangerschaft auf. Wer geht hier mit wem schwanger?
Völker als ganze sind bei N. wie in der Bibel weiblich, siehe Glossar unter -> dame und können
somit >schwanger< werden. Sie tragen dann einen Herrscher aus, VH (12), d.h. sie bringen
einen neuen Souverän zur Welt, wie in 8/97 (Kap.40). Am Ende des Freiheitskampfes im Jahr
1830 hat das griechische Volk unter Mithilfe gleich mehrerer europäischer Hebammen ein neues,
allein den Griechen gehörendes Königreich ins Leben gerufen. Das griechische Volk >gebiert
einen neuen Souverän<, einen neuen König.
Die Griechen rufen um Hilfe, die Westmächte richten die Sache
04/39 Les Rhodiens demanderont secours/ Par le neglet de ses hoyrs delaissée./ L‘ empire Arabe reualera son cours/ Par Hesperies la cause redressée. (1568)
Die von Rhodos werden Hilfe fordern,/ durch Vernachlässigung von ihren Erben verlassen./ Das arabische Imperium wird seinen Kurs wieder aufwerten,/ durch die Westmächte wird die Sache geradegerichtet.
2) Das weibliche p.p.p. delaissée bezieht sich auf das n.f. Rhodos; neglet ist das verkürzte lat. n.m. neglectus Vernachlässigung
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Vz 1/2 [Die von Rhodos durch ihre Erben vernachlässigt] „Die von Rhodos“ stehen für die
Griechen. Rhodos gehörte in klassischer Zeit zum attischen Seebund unter der Führung der
attischen Polis, in der sich die Demokratie durchgesetzt hatte. Rhodos‘ ideelle >Erben< sind
die aus N.s Sicht seit 1689 bzw. 1789 >demokratisch infizierten< Nationen Großbritannien und
Frankreich. Diese Mächte haben die Idee der griechischen Souveränität bis 1826 nur diploma-
tisch unterstützt und sie in diesem Sinne vernachlässigt.
Vz 3 [arabisches Imperium steigt im Kurs] Ein Zentrum der griechischen Erhebung gegen die
Türken in den Jahren 1821ff. liegt auf der Peloponnes, 5/90 (s.o.). Die Türken und ihr Herrscher-
geschlecht der Osmanen sind nun aber keine Araber, woran die Deutung scheitern würde.
Das osmanische Reich kann hier „arabisches Reich“ heißen, weil es eine Armee unter einem
arabischen, nämlich dem ägyptischen Statthalter des Sultans ist, welche 1825 die rebellische
Halbinsel unterwirft. Ägypten gehört damals zum Reich der Osmanen, ist ihm tributpflichtig.
Vz 1/4 [Griechischer Hilferuf/ Westmächte richten die Sache] >Die Griechen< als Machtzentrum
gibt es zu der Zeit nicht, sie sind untereinander zerstritten. Ein Hilferuf >der< Griechen ist nicht
überliefert. Aber so wird es den Europäern dargestellt, und der französische Seher übernimmt
die europäische Wahrnehmung.
„Die edlen christlichen Großmächte nun, welche doch dem >Dahinschlachten der Hellenen durch die osmanischen und ägyptischen Barbaren<, wie das für die europäische öffentliche Meinung aussah, nicht tatenlos zusehen durften, verbündeten sich nicht gegen das Osmanische Reich! Von einem Kriegszustand war keine Rede. England, Frankreich und Rußland fungierten als >überpartei- liche Schiedsrichter<, als Friedensstifter.“
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Majoros/Rill, Das Osmanische Reich 1300-1922, Wiesbaden 2004, S. 321
Die Hesperiden wohnten als Töchter der Nacht im äußersten Westen. Bezogen auf Griechenland,
den Schauplatz des Verses, sind Großbritannien und Frankreich Westmächte. Im Oktober 1827
zerstört eine britisch-französisch-russische Flotte die ägyptisch-türkische Marine beim griechischen
Navarino. In der Folge wird die Sache aus europäischer Großmachtsicht in Ordnung gebracht,
als im Londoner Protokoll vom Februar 1830 den Griechen ein eigenes Königreich zugesprochen
wird (ab 1844 konstitutionell).
Zu N.s Wertungshierarchie N. ist jeglicher Demokratie abhold, 9/78 (Kap.33), ihm gelten alle Ideen,
die sich gegen eine etablierte monarchische Herrschaft richten, als >ansteckende Krankheit<, als
>Pest<. Dass die Griechen als orthodoxe Christen gegen die Oberherrschaft des muslimischen
Sultans aufbegehren, ist für ihn offenbar ein zweitrangiger Gesichtspunkt. Die Religion, auch der
Islam, ist ihm als ordnungsstiftende Macht willkommen, die Souveränität aber ist dem Herrscher,
auch einem muslimischen, vorbehalten. Sogar wenn aus einem Volksaufstand ein (konstitutio-
nelles) Königreich hervorgeht, lehnt er dieses ab, 8/8 (Kap.29).