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         Kapitel 27  Restauration, Ludwig XVIII. und Louis-Philippe

Nach der Niederlage Napoleons machen die Fürsten Europas einen

Teil der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen rück-

gängig, die das Vierteljahrhundert seit der Revolution in

Frankreich gebracht hat.

           Auszug aus dem historischen Inhaltsverzeichnis

           06/04   Köln >wechselt das Ufer<, Ende der Befreiungskriege, Restauration

         10/90   Der Tyrann stirbt „hundertmal“ – an seine Stelle tritt
                    ein Gebildeter und Gutmütiger

           03/73   Die Konkurrenz bourbonischer Linien

           06/32   Ermordung des Herzogs von Berry

           03/96   Dreizehnter Februar

           04/64   Der Schwächling im Bürgerkleid

           02/69   König in einer Republik

           08/42   Louis-Philippe sucht Zuflucht zu repressiver Politik, Habgier

           09/89   „Demütigung der Araber“: Die Eroberung Algeriens

           04/33   „…verborgen unter dem weißen Glanz Neptun“ (1846)

 

        Köln >wechselt das Ufer<, Ende der Befreiungskriege, Restauration 

 

06/04    Le Celtique fleuue changera de riuaige,/

Plus ne tiendra la cité d’ Agripine:/

Tout transmué ormis le vieil langaige,/

Saturne, Leo, Mars, Cancer en rapine. (1568)

 

Der keltische Fluss wird das Ufer wechseln,/

er wird nicht mehr die Stadt der Agrippina haben./

Alles verwandelt außer der alten Sprache,/

Saturn (für) Löwe (und) Mars  -  Krebs auf Plünderung.

 

4) Mittelfrz. n.f. rapine 1. gewaltsame Besitzergreifung, Raub

(prise de possession violente d‘ une chose) 2. Plünderung (pillage)

Die Deutung ergibt, dass keine gewaltsamen Vorgänge gemeint sind,

so dass besser mit Plünderung oder Beutemachen übersetzt wird.

 

 

Vz 1 [Keltischer Fluss …]  Der >neue Keltische< ist in 6/3 (Kap.22) Napoleon.  N. erkennt in dem

Korsen einen illegitimen Herrscher, der nur an die Macht kommt, weil sein Volk durch den Sturz

des legitimen Herrschers den christlichen Gehorsam aufgekündigt und damit die >keltische<, d.h.

nachchristliche Zeit heraufgeführt hat.  Der >Rhein< bedeutet das Bündnis deutscher Fürsten mit

dem Usurpator, 6/3 (Kap.22), wie auch das Grab des christlichen Kaiserreichs, 6/47 (Kap.22).

Vz 1 [… wechselt das Ufer]  Wegen der militärischen Überlegenheit Frankreichs unter Napoleon

haben deutsche Fürsten sich mit ihm verbündet und die alte Treue zum Kaiser gebrochen.  So

haben sie erstmals >das Ufer gewechselt<.  Nach dem Russland-Desaster Ende 1812 werden

die deutschen Fürsten dem Fremdherrscher untreu, >wechseln< erneut >das Ufer<.  Nach der

von Frankreich verlorenen Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 löst sich der Rheinbund

prompt auf.

Vz 2 [… hat Köln nicht mehr]  Auch die Kölner sagen sich bald nach Leipzig von Napoleon los,

wollen nicht mehr zu Frankreich gehören.  Seit dem 6. Oktober 1794 französisch besetzt, endet

im Rheinland nach fast zwanzig Jahren die >Franzosenzeit<.

Vz 3 [Alles verwandelt …]  Vergleichsgrundlage dürfte aus der Adlerperspektive N.s die Zeit

vor 1794 sein.  Sehr pauschal sind hier die politischen Wandlungen durch die Fremdherrschaft

Napoleons und durch die Restauration angesprochen.  Einen Teil der Veränderungen seit 1789

tastet die Restauration nicht an, z.B. die Säkularisation der Kirchenfürstentümer und das Ende

des deutschen Kaiserreichs.

Vz 3 [… außer der alten Sprache]  Eine humoristische Deutung will hier das Kölsch erkennen,

das nach einer Naturkatastrophe immer noch gesprochen werde.  Gemeint ist aber eher, dass

religiös noch die >alte Sprache< gesprochen wird, dass also die Rheinländer katholisch bleiben. 

N. hat sich für das Schicksal seiner, der katholischen Kirche interessiert, nicht für deutsche

Dialekte.

Vz 4 [Saturn für Löwe (und) Mars]  Der Saturn wurde gern dargestellt als todbringender Sensen-

mann und steht hier für das Ende eines monarchischen Herrschers, nämlich Napoleons, sowie

für das Ende der sogenannten Befreiungskriege 1813-15.

Vz 4 [Krebs auf Plünderung]  Der Krebs, bekannt für seinen charakteristischen Gang seitlich

nach hinten, meint hier den >Rückwärtsgang<, den die Geschichte Europas nach dem Sturz

Napoleons einlegt.  Die Restauration der vorrevolutionären politischen und gesellschaftlichen

Verhältnisse ist eines der Prinzipien, das die Fürsten auf dem Wiener Kongress eint.  Und es

gibt Einiges aus der Konkursmasse des napoleonischen Frankreich zu verteilen.  Da sind

die Gebiete der ehemaligen rheinischen Fürsten  - darunter das Linke Rheinufer mit Köln -,

die Preußen zugeschlagen werden.  Österreich bekommt Gebiete in Oberitalien, Sardinien

kriegt Piemont usw.   Nachdem der >Löwe<, der Störenfried, weg ist, verständigen sich die

Herdentiere auf ihre Weidegründe und Reviere.

 

        Der Tyrann stirbt „hundertmal“  -
                 an seine Stelle tritt „ein Gebildeter und Gutmütiger“

 

   10/90    Cent foys mourra le tyran inhumain,/

                    Mys à son lieu scauant & debonnaire,/

                    Tout le senat sera dessoubz sa main,/

                    Faché sera par malin temeraire. (1568)

                   

                    Hundertmal wird sterben der unmenschliche Tyrann,/

                    An dessen Stelle ein Gebildeter und Gutmütiger tritt./

                    Der ganze Senat wird in seiner Hand sein./

                    Erzürnt wird er sein über einen leichtfertigen Übeltäter.

 

 

Vz 1 [Unmenschlicher Tyrann…]  Als einen „unmenschlichen Tyrannen“ bezeichnet N. den Kaiser

wegen seiner Untaten gegen die Kirche, 1/76 (Kap.19), und seiner auch für das eigene Volk

verlustreichen Schlachten, 1/60 (Kap.19).  In Napoleon erschaute er den ersten von drei Anti-

christen, 9/5 [VIII].

Vz 1  […stirbt hundertmal]  „Hundertmal“, nämlich hundert Tage lang erfährt Napoleon nach

seiner Rückkehr von Elba, dass er zwar die Armee noch für sich gewinnen kann, die Begeiste-

rung der Franzosen für sein Kaisertum aber dahin ist.  Cent fois hundertmal lautet gleich wie

sans foi ohne Glauben. Der Glaube an Napoleons Genie ist verblasst.

Vz 2  [an dessen Stelle tritt ein Gebildeter und Gutmütiger]  Ludwig XVIII. wird von den Briten

protegiert und von der Koalition der Sieger als König „eingesetzt“.  Gebildeter als seine beiden

Brüder, hat er sich in den Jahren der Emigration mit der Frage des Ausgleichs zwischen Königtum

und der durch die Revolution entstandenen bürgerlichen Ordnung befasst.  Er betreibt eine Politik

der Versöhnung.

  

„Seit 1796 begann Ludwig XVIII., sich von Extrempositionen der Jahre

1793-1795 allmählich zurückzuziehen und sich jener Mäßigung zu

verschreiben, die dann im Verfassungskompromiß der Charte von 1814

enden sollte.  Allmählich begriff er, welche abstoßenden Folgen auf die

öffentliche Meinung in Frankreich seine Forderungen nach Vergeltung und

Wiederherstellung der alten Ordnung der Monarchie haben mußte.“

 

              P.C. Hartmann (Hsgr.), Franz. Könige und Kaiser der Neuzeit, München 1994, S. 375

Vz 3  [ganzer Senat in seiner Hand]  Die von Ludwig XVIII. erlassene Verfassung verzichtete auf

Vergeltung und Verfolgung und ließ die Verwaltungs- und Rechtsprechungsinstanzen des Empire

unangetastet.  Die Mitglieder der Pairskammer ernennt der König, die Abgeordnetenkammer

kann er auflösen.  Beide Körperschaften sind insofern „in seiner Hand“.

Vz 4  [Erzürnt durch leichtfertigen Übeltäter]  Damit ist die Ermordung eines Mitglieds des Königs-

hauses im Jahr 1820 gemeint, von der noch zwei weitere Verse handeln (s.u.).  Dieser Mord

bewirkt eine Abkehr des Königs von seiner bis dahin für die Verhältnisse der Zeit liberalen Politik. 

 

 „Decazes‘ [des Ministerpräsidenten] liberale Politik wurde vor allem in der

royalistischen Presse für den Mord verantwortlich gemacht, und sein Rücktritt

am 20.2. [1820] markierte das Scheitern einer Versöhnungspolitik unter den

Auspizien des monarchischen Prinzips.“

 

               P.C. Hartmann (Hsgr.), Franz. Könige und Kaiser der Neuzeit, München 1994, S. 386

 

        Die Konkurrenz bourbonischer Linien

  

03/73    Quand dans le regne paruiendra le boiteux/

Competiteur aura proche bastard:/

Luy & le regne viendront si fort rogneux,/

Qu‘ ains qu‘ il guerisse son fait sera bien tard. (1555)

 

Wenn zur Herrschaft gelangen wird der Lahme,/

wird er (als) Rivalen einen verwandten Bastard haben./

Er und das Reich werden sehr stark krätzig werden,/

doch bevor `s wieder heil werde, was er getan, wird `s

recht spät werden.

 

 

[Fehldeutung des Verses 3/73]  Henry Charles de Bourbon, geboren 1820, ist Enkel von Charles X.,

des letzten Bourbonen der älteren Linie auf dem Thron Frankreichs.  Seit 1836 Thronprätendent

der Legitimisten, kommt er doch nie (als Heinrich V.) zum Zuge und zur Herrschaft.  Daran scheitert

diese Deutung.

Vz 1 [Lahmer gelangt zur Herrschaft]  1815 kehrt nach der endgültigen Vertreibung Napoleons

der jüngere Bruder des in der Revolution umgekommenen Ludwigs XVI. als Ludwig XVIII. auf

den Thron zurück.  Wie vormals sein Bruder ist er ein starker Esser und bezahlt seine Leiden-

schaft mit der Gicht. Er kann damals schon kaum mehr gehen, wird mit dem Rollstuhl bewegt

und ist somit ein „Lahmer“.

Vz 2 [verwandter Bastard als Rivale]  >Bastarde< werden in 8/43 (Kap.30) die Könige Charles X.

(1824-30) und Louis-Philippe (1830-48) genannt, weil sie nicht mehr Könige ausschließlich aus

eigenem Recht sind, sondern sich auf Konstitutionen verpflichten müssen.  Ihre Legitimation ist

eine gemischte, in diesem übertragenen Sinn sind sie >Bastarde<.  Eine offene Konkurrenz

zwischen älterer und jüngerer Linie der Bourbonen hat es seit der Zeit gegeben, da >Philippe

Égalité<, der Vater des späteren Königs Louis-Philippe, im Konvent mit den >Königsmördern<

gestimmt, d.h. seinen Verwandten König Ludwig XVI. zum Tod verurteilt hat.

Vz 3 [>Krätze<]  Das >Krätzigwerden< des Königreichs Frankreich ist ein Bild dafür, dass es

für die Herrscher sehr ungemütlich wird, wenn der Anspruch des Volkes, selbst der Souverän

zu sein, einmal halbwegs anerkannt wird, indem der Monarch eine konstitutionelle Beschränkung

seiner Herrschaft akzeptiert.  Die >Seuche der Demokratie<, einmal eingelassen, werde sich

immer mehr ausbreiten.  N. zufolge verspielen die Bourbonen die Monarchie für eine lange,

aber begrenzte Zeit.

 

 

        Ermordung des Herzogs von Berry

 

06/32    Par trahyson de verges à mort battu,/

Prins surmonté sera par son desordre:/

Conseil friuole au grad captive sentu,/

Nez par fureur quant Berich viendra mordre. (1568)

                   

Wegen Verrats von Ruten zu Tode geschlagen,/

gefangen, überwunden wird er werden wegen seiner Verwirrung./

Leichtfertiger Rat vom großen Gefangenen (wird) geahnt,/

Gesicht in Wut, wenn er Berich ermorden wird.

 

4) Wäre „Berry“ Subjekt, fehlte ein Objekt zu mordre.  Somit ist ein „er“

Subjekt, derjenige, von dem die ersten beiden Verszeilen handeln.

 

 

Vz 4/1  [“Berich“ ermordet/ Wut, Verwirrung]  Im Jahr 1820 wird der Duc de Berry, ein Neffe des

Königs, in Paris ermordet.  Er ist nach seinem Vater der zweite in der Thronfolge des kinderlosen

Ludwig XVIII., also ein ranghohes Mitglied des Königshauses.  Den republikanisch gesonnenen

Attentäter treibt Hass auf die Bourbonen zu seiner Tat („Gesicht in Wut“).  Er soll auch geistig

gestört gewesen sein (Verwirrung).

Vz 3/1  [Großer Gefangener/ Verrat]  Im Prozess gegen den Attentäter wird sogar der an seinem

Verbannungsort im Südatlantik noch lebende Napoleon als Anstifter verdächtigt.  Das Urteil lautet

auf Todesstrafe wegen Hochverrats und wird auf der Place de Grève vollstreckt.  Aus den verges

Ruten kann man durch Buchstabenumstellung Grève machen  -  darin könnte also ein verschlüs-

selter Hinweis auf den Ort der Hinrichtung liegen.

 

        Dreizehnter Februar

 

03/96   Chef de FOVSSAN aura gorge couper/

Par le ducteur du limier & leurier:/

Le faict patré par ceux du mont TARPEE/

Saturne en Leo XIII. de Feurier. (1555)

 

Das Haupt von Fossano wird die Kehle durchschnitten haben/

durch den Führer des Spür- und Wachhundes./

Die Tat vollbracht durch die vom tarpejischen Felsen,/

Saturn im Löwen, dreizehnter Februar.

 

1) Das Prädikat ist kein korrektes Französisch, es ist wohl

ein Futur II gemeint:  aura gorge coupé

2) Lat. n.m. ductor Führer

3) Lat. v. patrare vollbringen, ausführen

 

 

Vz 1/2 [Haupt von Fossano Kehle durchschnitten durch Führer des Hundes]  Charles-Ferdinand,

Herzog von Berry, ein Sohn des Grafen von Artois, des späteren König Charles X., wird am

14.2.1820 von einem fanatischen Republikaner dem Sattlergesellen Pierre Louvel ermordet. 

Die Mutter des Ermordeten ist Marie-Therese von Savoyen, wo die Stadt Fossano liegt.  Er ist

aber nicht Herzog von Savoyen, weshalb Zweifel an dieser Deutung erlaubt sind.  Der Name des

Mörders ähnelt dem Wort louvetier, welches Hundeführer bedeutet. 

Vz 3/4 [vollbracht durch die vom tarpejischen Felsen/ Saturn im Löwen]  Die aus politischen

Gründen begangene Tat ist ein Akt des Hochverrats.  Sie wird vollbracht durch >die vom tarpeji-

schen Felsen<, von dem im antiken Rom die Hochverräter gestürzt wurden.  Am 14.2.1820 steht

der Saturn bei 29° Fische, also nicht im Löwen.  Saturn ist daher hier in der geläufigen Bedeutung

des Todesbringers zu verstehen, und der >Löwe<, das königliche Tier, deutet darauf, dass es ein

Mitglied des Königshauses ist, das zu Tode kommt.

 

        Der  „Schwächling im Bürgerkleid“

 

04/64    Le dafaillant en habit de bourgeois,/

Viendra le Roy tempter de son offence:/

Quinze souldarts la plus part Vstagois,/

Vie derniere & chef de sa cheuance. (1568)

 

Der Schwächling im Bürgerkleid/

wird den König zu erreichen versuchen mit seiner Beleidigung./

Fünfzehn Soldaten, die meisten rot Gefärbte (?),/

Vergangenes Leben, und (nur noch) Haupt seiner Liegenschaften.

 

2) Altfrz. v. tempter, tenter zu erreichen suchen (chercher à atteindre),

auf die Probe stellen, in Versuchung führen (tenter)

3) Vstagois ist unklar.  Lat. n.f. usta gebrannter Zinnober, rote Farbe.

4) Altfrz. n.f. chevance Erfüllung (accomplissement), Gewinn (profit)

Liegenschaften (bien-fonds)

 

 

Vz 1/2 [Schwächling im Bürgerkleid sucht König zu erreichen/ Beleidigung]  N. akzeptierte nur

das absolute Königtum, also keine Einschränkung der Königsmacht durch Konstitutionen,

10/22 (Kap.9).  Daher muss sein Urteil über einen Mann negativ ausfallen, der sich nicht mehr

Roi de France et de Navarre, sondern Roi des Francais, König der Franzosen nennen lässt und

damit seine Volksnähe demonstrieren will.  Er legt als >Bürgerkönig<, als der er sich versteht,

z.B. keinen Wert auf die Etikette am Hof.  König Louis-Philippe ist, nicht aus Schwäche oder

wegen eines Versagens (defaillir), sondern mit Überzeugung Repräsentant eines bürgerlich

dominierten Frankreich, welches das Ancien Régime der Altvorderen und radikales Jakobiner-

tum gleichermaßen ablehnt, 8/43 (Kap.30).  N. sieht darin eine „Beleidigung“ >echten< König-

tums und das fehlgeschlagene Bemühen, ein wirklicher König zu sein, es seinen Vorfahren auf

dem Thron nachzutun.  Letzteres hat mit der geschichtlichen Wahrheit über Person und Programm

des Königs Louis-Philippe nichts zu tun.

Vz 3/4   Diese Verszeilen sind ungeklärt.  Im achtzehnten Jahr seiner Herrschaft wird er durch die

Februar-Revolution von 1848 zur Abdankung gezwungen.  Er stirbt 1850 als Graf im britischen Exil.

           

        König in einer Republik

 

02/69    Le roy Gauloys par la Celtique dextre/

Voiant discord de la grand Monarchie,/

Sus le trois pars fera fleurir son sceptre,/

Contre la cappe de la grand Hirarchie.  (1568)

 

Der gallische König, wegen des keltischen Handschlags/

sieht er in Zwietracht die große Monarchie./

Über den drei Teilen wird er sein Zepter blühen lassen,/

gegen das Ornat der großen Hierarchie.

 

1) Lat. n.f. dextra rechte Hand;  Handschlag, gegebenes Wort,

feierliche Versicherung der Treue;  Treue, Tapferkeit, Mut.

4) Mittellat. n.f. cappa  Mantel, Kapuze;  Ornat der Geistlichen.

 

 

Vz 1/2 [Monarchie in Zwietracht wegen keltischen Handschlags]  >Keltisch< nennt N. Franzosen,

die im Namen der Freiheit gegen eine Herrschaft aufbegehren, s.a. unter -> Celtes im Glossar. 

Mit dem >keltischen Handschlag< ist hier die Treue zu den Prinzipien der Revolution von 1789

gemeint, die der Bürger-König (Roy Citoyen) Louis-Philippe im Juli 1830 geschworen hat. 

Darin liegt im Urteil des Sehers der Konstruktionsfehler seines Königtums und der Grund für die

„Uneinigkeit“ des Landes unter seiner Führung, 8/43 (Kap.30).

Vz 3/4 [Zepter blüht über den drei Teilen/  gegen das Ornat der großen Hierarchie]  Die „drei Teile“

sind die drei Farben der Trikolore, die 1789 an die Stelle des Lilienbanners getreten und zur

Fahne der französischen Republik geworden ist.  Neben den Pariser Stadtfarben Rot und Blau

ist darin das königliche Weiß enthalten.  Wenn der Gemeinte sein Zepter >über dieser Farbe

blühen lässt<, will er König in einer Republik sein  -  für N. ein Unding und eine Beleidigung

wahren Königtums, 4/64 (s.o.).  Er stelle sich damit gegen das Königtum seiner Vorfahren,

gegen das >Ornat der großen Hierarchie<.  Damit ist nicht die kirchliche Hierarchie gemeint,

sondern das uneingeschränkte Königtum selbst, das ihm als „heilig“ gilt, 6/57 (Kap.19).

 

        Louis-Philippe sucht Zuflucht zu repressiver Politik, Habgier

 

08/42    Par avarice, par force & violence/

Viendra vexer les siens chiefz d’ Orleans,/

Pres saint Memire assault & resistance./

Mort dans sa tente diront qu’ il dors leans.  (1568)

 

Aus Habsucht, durch Zwang und Gewalt/

werden Häupter von Orléans die Ihren verheeren./

Bei Saint-Merry Angriff und Widerstand./

Tot in seinem Zelt, werden sie sagen, dass Orléans schläft.

        

2) Prädikat im falschen Numerus: viendra statt viendront

4) Im Kontext steht hier tante anstelle von tente Zelt

 

 

Vz 2 [Häupter von Orléans verheeren die Ihren]  Louis-Philippe, Herzog von Orléans, nennt sich

Philippe Égalité zur Demonstration seiner revolutionären Gesinnung.  Er hat im Konvent am

17.1.1793 für die Hinrichtung König Ludwigs XVI. gestimmt, 2/98 (Kap.17).  Philippe Égalité

ist von Geblüt Bourbone und hat zum Untergang der Bourbonen als Königsgeschlecht beigetra-

gen, hat insofern „die Seinen verheert“. Sein Sohn Louis-Philippe wird 1793 nach der Hinrich-

tung seines Vaters Haupt des Hauses Orléans, einer Seitenlinie der Bourbonen. 

Vz 1 [Habsucht]  Er pflegt einen betont bürgerlichen Lebensstil und hat sich, bevor er 1830 mit

56 Jahren König wird, vornehmlich der Mehrung seines Vermögens gewidmet.  Seine Politik

ist an den Interessen des Großbürgertums orientiert, fördert die Entfaltung der Industrie und gilt

der Mehrung des französischen Kolonialreichs, 9/89 (s.u.).

Vz 1/3 [Zwang und Gewalt/ Angriff und Widerstand]  König Louis-Philippes Regime erweist sich

als unfähig, in der durch die Industrialisierung aufgetretenen sozialen Frage die nötigen Reformen

anzupacken. Die Verarmung der Proletarier führt zu Aufständen, die gewaltsam niedergeschlagen

werden.  Am 5. Juni 1832 liefern Aufständische der Pariser Polizei Straßenkämpfe.  Um den Platz

beim ehemaligen Kloster Saint-Merry haben sich einige hundert Rebellen verschanzt (beschrieben

bei Victor Hugo, Die Elenden).

Vz 4  Diese Verszeile ist ungeklärt.  Sie dürfte sich auf die in den folgenden Jahren noch weiter

sinkende Popularität dieses Königs beziehen.

 

        „Demütigung der Araber“: Die Eroberung Algeriens

 

09/89    Sept ans sera Philip fortune prospere,/

Rabaissera des Arabes l’ effort,/

Puis son mydi perplex rebors affaire,/

Ieune ognyon abysmera son fort.  (1611)

 

Sieben Jahre wird Philipp (das) Glück hold sein,/

erniedrigen wird er das Bemühen der Araber./

Dann sein Süden ratlos, die Sache ins Gegenteil verkehrt./

Junge Zwiebel wird ihren Starken in den Abgrund stürzen.

 

2) Die Fassung von 1568 hat l‘ effaict statt l‘ effort, wodurch

der Reim nicht erfüllt wird.

4) ognyon wird hier als Abwandlung von oignon Zwiebel aufgefasst.

 

 

Vz 1 [Philipp sieben Jahre im Glück]  Der Bürgerkönig Louis-Philippe ist nur zu Beginn seiner

Herrschaft populär, als man sich noch Reformen von ihm erhofft.  Seine Regierung nimmt gegen

die vielen Revolten zu einer repressiven Politik Zuflucht.  „Sieben Jahre“ des Glücks können nicht

bestätigt werden.  Wie oft bei N. werden die erfolgreiche Phase einer Herrschaft am Anfang und

die enttäuschende Phase am Schluss eines Verses schematisierend dargestellt.

Vz 2/3 [erniedrigt Araber/ Sache ins Gegenteil verkehrt]  Mit der Erniedrigung der Araber ist die

schrittweise Eroberung Algeriens gemeint.  Die Jahre 1839/40 bringen den Höhepunkt der Orient-

Krise, in der es um Ägypten und Syrien geht. Frankreich steht allein gegen die anderen europä-

ischen Mächte.  Der König macht angesichts der Kriegsgefahr einen Rückzieher, und Frankreich

spielt von da an, außer in Algerien, keine Rolle mehr im Mittelmeerraum. 

Vz 4 [Junge Zwiebel stürzt ihren Starken in den Abgrund]  Von den Unruhen im Februar 1848

gezwungen, dankt Louis-Philippe zugunsten seines neunjährigen Enkels ab.  Dieser minderjäh-

rige Thronfolger wird unter dem Bild einer Zwiebel, d.h. einer noch nicht aufgeblühten Lilie erfasst,

weil er einem Zweig der Bourbonen entstammt, die die Lilie in ihrem Wappen führen.  Da er nicht

durchgesetzt werden kann, geht mit ihm das Haus Orléans als Königshaus unter.

 

        „…verborgen unter dem weißen Glanz Neptun“ (1846)

 

04/33    Iuppiter ioint plus Venus qu‘ à la Lune

Apparoissant de plenitude blanche:

Venus cachée soubs la blancheur Neptune

De Mars frappe par la granée (!) branche. (1555)

 

Jupiter verbunden mehr der Venus als dem Mond,

erscheinend in weißer Fülle.

Venus verborgen, unter dem weißen Glanz Neptun,

von Mars geschlagen mit dem grimmigen Speer.

 

4) N.f. branche Ast, Stange;  wird hier mit „Speer“ wiedergegeben,

weil Schild und Speer die Attribute des antiken Gottes Mars waren.

4) Altfrz. Adj. grainde, grain, grant, gran bedeutet u.a. verärgert

(faché), grimmig (furieux), aufbrausend (colère).

 

 

Nostradamus‘ Vers enthält die Voraussage mehrerer Gestirnstände bei der ersten Sichtung

eines bis dahin  unbekannten Planeten.  Es ist der Brite James Challis, Direktor des Observa-

toriums in Cambridge, der am 4.8. und 12.8.1846 sein Teleskop auf das vorausberechnete

Himmelsareal richtet, den Planeten sichtet, d.h. seine Position erfasst, ihn als solchen aber

noch nicht erkennt.  Zwischenzeitlich muss er wegen des Vollmondes am 7.8.1846 die Beob-

achtungen einstellen.  Der Vers enthält insgesamt fünf Angaben von Konstellationen, die alle-

samt auf die Nächte zwischen den beiden genannten Terminen passen:

  • Der Mond erscheint „in weißer Fülle“, d.h. es herrscht Vollmond bzw. der Mond
  • ist nicht weit von der Vollmond-Position entfernt.

  • "Unter dem weißen Glanz Neptun“, d.h. Neptun ist nicht beobachtbar wegen
  • des Vollmondes.

  • Neptun wird von Mars „mit dem grimmigen Speer geschlagen“, d.h. er steht
  • in Opposition zum Mars

  • Jupiter steht näher bei der Venus als beim Mond
  • Venus ist „verborgen“, d.h. unter dem Horizont.

 

Neben der Prognose von Konstellationen bei der Entdeckung des Planeten gelingt es N. auch,

den Namen vorauszusagen, auf den man sich später einigen würde  -  er ist anfangs durchaus

umstritten, die Franzosen wollen ihn Le Verrier nennen nach einem ihrer Astronomen, der sich

um die mathematische Bestimmung der Position mit Hilfe von Unregelmäßigkeiten der Uranus-

Bahn verdient gemacht hat.   Der Nachweis, dass es sich hier um einen Planeten handelt, gelingt

dann wenig später, am 23.9.1846, dem deutschen Astronomen Johann Gottfried Galle. 

(Literatur: Tom Standage, Die Akte Neptun, Berlin 2004).

Gegen diese Deutung des Verses wird eingewandt, man habe mit den Mitteln des 16. Jahrhun-

derts Neptun noch nicht beobachten und daher auch keine Berechnungen über seine Bahn

anstellen können (Pfändler 1996).  Aber das behauptet die Deutung ja auch nicht.  Diese unbe-

strittene Tatsache bildet den Hintergrund dafür, dass hier anscheinend jemand mit außerordent-

lichen Mitteln einen Blick in die Zukunft der Himmelsbeobachtung geworfen, also zuerst  

g e s c h a u t  und dann erst gerechnet hat, vgl. VH (7), Anm (5).  Dieser Anschein entsteht durch

die Angaben des Verses in eindrucksvoller Weise  -  hervorzuheben besonders die Opposition

des neuen Planeten zum Mars bei seiner Entdeckung.  Sie weicht nur etwa 2 Grad von der

exakten Opposition ab;  damit ist die Wahrscheinlichkeit für einen Zufallstreffer nur etwa 1 : 90.