Suche 

         Kapitel 26  Rückblick

In den folgenden Versen kommt die napoleonische Ära als ganze

ins Blickfeld, so als werde sie aus der Perspektive von Zug-

vögeln betrachtet, die sich in großer Höhe sammeln und noch

einmal zurückblicken, bevor sie weiterziehen zu neuen Zeitläuften. 

Die Adlerperspektive des Sehers scheint hier die Metapher der

>Vögel< nahezulegen.

 

Auszug aus dem historischen Inhaltsverzeichnis

05/60   Er wird am Ende >mit seiner Fuhre nicht durch die Tür kommen<

02/23   Der Zug der >Palastvögel< geht weiter

02/44   Durch andere Vögel aus der Umgebung verjagt

02/11   Napoleon kann keine Dynastie gründen

01/98   Weit weg von seinem Himmel unter fremder Sitte und Sprache 

 

       Er wird am Ende >mit seiner Fuhre nicht durch die Tür kommen<

 

05/60  Par teste rase viendra bien mal eslire,/

Plus que sa charge ne porte passera;/

Si grand fureur & raige fera dire,/

Qu' à feu & sang tout sexe trenchera. (1568)

 

Durch geschorenen Kopf wird (man) ein rechtes Übel wählen,/

zu übel, als dass seine Fuhre durch die Tür kommen wird./

Ein sehr großes Toben und Wüten wird er vortragen/

und wird mit Feuer und Blut beide Geschlechter bedrohen.

 

1) Auch möglich: "Von geschorerem Kopf wird ein großes Übel

gewählt werden."

4) Zu Feuer und Blut s, Glossar unter -> feu und -> sang

Zu den Geschlechtern s. Glossar unter -> sexe.

Mittelfrz. v. trencher, trancher bedrohen (miner), kappen (couper).

 

  

Vz 1 [geschorener Kopf]  Wegen seines militärisch kurzen Haarschnittes wird Napoleon

hier wie in 7/13 (Kap.21) und 1/88 (Kap.24) wortgleich als „geschorener Kopf“ tituliert.

Vz 1/3 [Übel gewählt/ großes Toben und Wüten]  Das Plebiszit, mit dem sich der Erste

Konsul 1804 seine Ambition auf den Kaisertitel absegnen lässt, ist formell eine Wahl. 

Aber eigentlich >wählen< die maßgebenden Kreise des Bürgertums und des Militärs

schon 1799 den populären General an die Spitze des Staates, um nach Wirren und

Niedergang wieder Ordnung zu schaffen. Das „Übel“ erkennt N. darin, dass mit Napoleon

ein „inhumaner Tyrann“, 10/90 (Kap.27), und Schlächter, 1/60 (Kap.19), an die Macht

kommen werde.  Seine Kriege führen zu enormen Menschenverlusten bei Gegnern wie

auch bei Franzosen.  Sein „Toben und Wüten“ werde „sehr groß“ sein, weil es nahezu

den ganzen Kontinent in Mitleidenschaft ziehe.

Vz 4 [beide Geschlechter mit Feuer bedroht]  Napoleon werde >beide Geschlechter<

bedrohen, nämlich >Damen< und Herren, d.h. die Fürsten und die ihrer Obhut anver-

trauten Völker.  N. bedient sich hier erneut der biblischen Metaphorik, s. Glossar unter

dame.  Fürsten und ihre Völker werden in der napoleonischen Ära mit dem >Feuer<

des Krieges bedroht.

Vz 4 [beide Geschlechter mit Blut bedroht]  Eine andere Bedrohung erkennt N.in dem

>Blut<, von dem die Revolution der Franzosen lebt.  Gemeint sind die Ideen der Aufklärung:

die Idee der Rechtsgleichheit aller Menschen, der Gewerbefreiheit, Meinungsfreiheit sowie

der autonomen Vernunft als zur Gestaltung des Gemeinwesens allein befugten Instanz. 

Bedroht ist durch diese Ideen die Herrschaft aller Fürsten. Durch Printmedien popularisiert,

>bedrohen< die als aufgeklärt geltenden Ideen, die N. für verderblich hält, auch die Völker.

Vz 2 [seine Fuhre kommt am Ende nicht durch die Tür]  Der Üble werde am Ende >mit

seiner Fuhre nicht durch die Tür kommen<, d.h. sein Vorhaben nicht verwirklichen können. 

Der Traum vom Grand Empire unter seiner Vorherrschaft ist im Juni 1815 endgültig zer-

stoben.  Dagegen hat sich die Verbreitung aufklärerischer Ideen in Europa, zu der er bei-

trägt, als nicht reversibel erwiesen.

 

  

      Der Zug der Palastvögel geht weiter

 

02/23    Palais, oyseaux, par oyseau deschassé,/

Bien tost apres le prince preuenu (!),/

Combien qu’ hors fleuue ennemis repoulsé/

Dehors saisi trait d’ oysesau soustenu. (1555)

 

Palastvögel, durch (einen) Vogel verjagt,/

recht bald danach der Fürst vereitelt./

Zwar über den Fluss (gekommen, werden) Feinde zurückgedrängt./

Draußen ergriffen, Vogelzug aufrechterhalten.            

 

2) V. prévenir zuvorkommen, entgegentreten, vereiteln

3) Wörtlich: „…aus dem Fluss (gekommen)“, bei seiner Überquerung.0

Zu Feinden s. Glossar unter -> ennemi.

 

 

Vz 1/3 [Feinde zurückgedrängt/ Palastvögel verjagt]  Die 1792/93 über den Rhein nach Frankreich

vorgedrungenen Truppen Preußens und Österreichs können ab 1794 „zurückgedrängt“ werden,

das Land der Revolution behauptet sich.  Die >Palastvögel< sind all jene Fürsten, die Napoleon

in Italien, Spanien und dem Reich von ihren Thronen und aus ihren Palästen verjagt hat.  Als Kaiser

gehört der Korse ab 1804 selbst für einige Jahre zu diesen >Vögeln<, und zwar gleich als >Adler<,

2/44 (s.u.).

Vz 2/4 [Fürst bald vereitelt/ Vogelzug aufrechterhalten]  Diesem >Adler< treten die anderen Vögel

entgegen, und >bald<, im Jahr 1814, ist der gemeinte „Fürst vereitelt“.  Nach seiner Flucht aus

dem Exil wird er „draußen ergriffen“, d.h. auf dem Schlachtfeld besiegt und genötigt, endgültig

abzudanken.  Die aufgescheuchten >Palastvögel< können anschließend ihren Zug durch die Zeit

fortsetzen, es kommt die Restauration des Wiener Kongresses.

 

  

        Durch andere Vögel aus der Umgebung verjagt

 

02/44    L‘ aigle poussée en tour (!) des (!) pauillons/

Par autres oyseaux d‘ entour sera chassée,/

Quand bruit des cymbres, tubes & sonnaillôs/

Rendront le sens de la dame insensée. (1555)

 

Das Adlerwappen weggestoßen in der Nähe der Wappenzelte,/

durch andere Vögel aus der Umgebung wird er verjagt werden./

Wenn Zimbeln, Trompeten und Glocken erschallen,/

werden sie der irrsinnigen Dame die Vernunft zurückgeben.

 

1) Wegen poussée ist aigle hier das n.f. Adlerwappen, Feldzeichen mit Adler.

In der Wappenkunde bedeutet das n.m. pavillon eine Art Zelt, welches das

Wappen des Herrschers einfaßt.  Mittelfrz. entour in der Umgebung von (autour).

3) Altfrz. n.m. cimble Becken (cymbale).  Wenn bruit n.m. ist, muss ein Prädikatb

interpoliert werden, z.B. résonner ertönen;  wenn bruit v.i. ist, hätte eigentlich

der Plural bruissent stehen müssen.

 

 

Vz 1/2 [Adlerwappen weggestoßen/ durch andere Vögel verjagt]  Der Adler ist seit der römischen

Antike das Wappentier derer, die ein völkerübergreifendes Imperium gründen wollen.  Napoleon

will sein Banner über ganz Europa wehen lassen und hat manch andere >Palastvögel< vertrieben,

2/23 (s.o.).  Doch andere >Vögel< der gleichen Art, die Adler des Kaiserreichs Österreich, des

Zarenreichs Russland und des Königreichs Preußen können ihn schließlich verjagen.  Der

„Seelöwe“, 2/94 (Kap.23), hilft auch dazu. 

Vz 3/4 [Zimbeln, Glocken und Trompeten/ irrsinnige Dame zur Räson gebracht]  Die drei genannten

Instrumente gehören alttestamentarisch zur Tempelmusik, deren Klang Himmel und Erde verbindet. 

Trompeten kündigen in Mittelalter und Neuzeit den König an.  Nach dem Abgang Napoleons be-

kommt Frankreich wieder einen König aus dem alten Königshaus, das Königtum von Gottes

Gnaden wird restauriert.  Die >Dame<, das französische Volk, wegen der Revolution von N. als

irrsinnig geschmäht, folgt wieder ihrem rechtmäßigen Herrn.

 

 

        Napoleon kann keine Dynastie gründen 

 

02/11    Le prochain fils de l‘ asnier paruiendra/

Tant esleué iusques au regne des fors;/

Son aspre gloire vn chascun la craindra,/

Mais ses enfants du regne getés hors. (1555)

 

Der nächste Sohn wird (weiter) emporkommen als der Ältere,/

sehr weit erhoben, bis zur Herrschaft über einige Ausländer./

Sein herber Ruhm, ein jeder wird ihn fürchten,/

aber seine Kinder werden von der Herrschaft vertrieben werden.

 

1) Mittelfrz. n.m. asnier Eseltreiber. Wegen des „nächsten Sohnes“ ist aber

hier an ein verschriebenes l‘ aisnier zu denken, den „älteren Sohn“.

2) Fürs fors gibt es mehrere Möglichkeiten.  In den Kontext passt es,

darin ein reimbedingt verkürztes lat. n.m. forens Ausländer zu erkennen,

wie in 10/24 (Kap.25).

 

 

Vz 1 [Zweitgeborener erfolgreicher als älterer Sohn]  Der erstgeborene Giuseppe Buonaparte,

später Joseph Bonaparte, hatte sich darein gefügt, dass sein jüngerer Bruder Napoleone nach

dem frühen Tod des Vaters die Rolle des Familienoberhauptes übernahm.  Daher hat er auch

kein Problem damit, als Mitglied des Familienclans an der Karriere des Bruders teilzunehmen

und ihm dabei untergeordnet zu sein.  So bringt er es zum König von Neapel (1806-08) und

zum verhassten König von Spanien (1808-13).

Vz 2 /3 [Herrschaft über Ausländer/ herber Ruhm]  Napoleon I. kann erhebliche Teile des europä-

ischen Kontinents unter seine Oberherrschaft bringen.  Er beherrscht Frankreich, aber auch viele

ausländische Fürsten müssen mit ihm Verträge schließen oder von ihm eingesetzte Statthalter

erdulden.  Sein Ruhm ist auf militärische Erfolge gebaut und daher für die unterworfenen Zeit-

genossen „herb“.  Er ist bei den Fürsten Europas „gefürchtet“.

Vz 4 [Kinder von der Herrschaft vertrieben]  Als Kaiser versucht Napoleon, eine Dynastie zu

gründen und hat dafür auch schon mit einer jungen Frau aus altem Adel den nötigen ehelichen

Sohn gezeugt.  (Es sind also nicht „Kinder“, sondern nur  e i n  legitimer Sohn.)  Aber nach der

Abdankung wollen die Franzosen von einer napoleonischen Dynastie nichts mehr wissen. 

Gut dreißig Jahre später ist die Erinnerung dann schon verklärt (Kap.30).

 

 

        Weit weg von seinem Himmel unter fremder Sitte und Sprache

 

01/98    Le chef qu‘ aura conduit peuple infini/

Loing de son ciel, de meurs & langue estrâge:/

Cinq mil en Crete & Thessale fini,/

Le chef fuiant sauué en marine grange. (1555)

 

Das Haupt, das zahlloses Volk geführt haben wird,/

fern von seinem Himmel, unter fremder Sitte und Sprache./

Fünftausend in Kreta und Thessalien, erledigt,/

das Haupt auf der Flucht, gerettet in (einer) Meeresscheune.

 

2) Zu Himmel s. Glossar unter -> ciel.

 

 

Vz 1 [zahlloses Volk geführt/ weit weg von seinem Himmel] Napoleon hat riesige Heere befehligt

und viele Völker regiert, bevor ihn die Briten nach der endgültigen Niederlage bei Waterloo ins

Exil nach St. Helena eskortieren, eine winzige Insel im Südatlantik.

Vz 4 [auf der Flucht gerettet]  Zuvor hat er noch versucht zu fliehen (nach Amerika), muss aber

in Rochefort feststellen, dass der Hafen von den Briten blockiert wird.  Blücher, der preußische

Heerführer, will ihn erschießen lassen, falls er ihn fasst  -  vor seinen europäischen Feinden ist

Napoleon im Südatlantik „gerettet“. 

Vz 2/3 [fremde Sprache/ fünftausend in Kreta]  Kreta war in klassischer Zeit eine wenig ange-

sehene Insel am Rande der griechischen Welt  -  so wie St. Helena weitab von der modernen,

größer gewordenen, aber noch auf Europa zentrierten Welt des angehenden 19. Jahrhunderts

liegt.  Die Insel hat damals etwa 2000 Einwohner.  Zusammen mit den 2280 Soldaten der briti-

schen Garnison kommt man auf über 4000 Inselbewohner, N. schätzt sie auf 5000.  Seit Mitte

des 17. Jahrhunderts von den Briten als Stützpunkt genutzt, wird auf der Insel britisch gesprochen.

Vz 4 [Meeresscheune]  Die „Meeresscheune“ ist Longwood House, ein ehemaliges Lagerhaus,

in dem der abgeschobene Herrscher Quartier beziehen muss, weil Paläste nicht zur Verfügung

stehen.  Napoleon ist endgültig „erledigt“, seine letzten Lebensjahre verbringt er mit dem Diktieren

seiner Memoiren. - Im Mai 1821 stirbt der „große Gefangene“, 6/32 (Kap.27), mit 51 Jahren an

Magenkrebs.