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         Kapitel 21  Ägyptenfeldzug und Staatsstreich 

Im Oktober 1797 zum Oberkommandierenden General der England-

Armee ernannt, prüft Bonaparte den Plan einer direkten Invasion

der Insel und verwirft ihn als vorerst zu riskant.  Ersatzweise

greift er das Ägypten-Projekt auf, das seit den späten Jahren

Ludwigs XV. in den Schubladen der Militärs liegt.  Er kann maß-

gebliche Regierungskreise überzeugen und wird im März 1798 mit

der Durchführung beauftragt.  Ziel des Unternehmens ist es, den

britischen Handel mit Indien zu stören und so das britische

Empire zu schwächen.

          Auszug aus dem historischen Inhaltsverzeichnis

          03/23   Frankreich, wenn du über das ligurische Meer hinausfährst…

          03/24   Frankreich, erinnere dich an meine Worte

          Exkurs (8) Der Prophet als Warner

          07/13   Nach der Exkursion verjagt ein Tyrann die Revolution

          04/26   Die alte Regierung hat den Putschisten eingeladen

          05/05   Ein Usurpator betrügt das Volk der Revolution, bringt es um seine Freiheit

          05/20   Eine große Armee zieht über die Alpen

 

      Frankreich, wenn du über das ligurische Meer hinaus fährst …

 

03/23    Si France passes (!) outre mer lygustique,/

Tu te verras en isles & mers enclos:/

Mahômet côtraire: plus mer Hadriatique:

Cheuaux & d’ asnes tu rougeras les os.  (1555)

 

Wenn du, Frankreich, über das ligurische Meer hinaus fährst,/

wirst du dich auf Inseln und Meeren als Gefangenen sehen./

Mohammed feindlich, mehr (noch) das Adriatische Meer,/

von Pferden und Eseln wirst du die Knochen abnagen.

 

2) Mittelfrz. n.m. enclos Gefangener (prisonnier)

3) Hadriatique steht, weil es sich auf lygustiqe reimt, was man von

Mediterranée nicht sagen kann

4) rougeras ist ein verschriebenes rongeras. Wendung donner un os

à ronger à qu. jdn. abspeisen, knapp entschädigen

 

 

Vz 1 [Frankreich fährt über‘ s ligurische Meer]  Die Vorbereitungen des Feldzugs nach Ägypten

laufen nicht nur in Toulon und Marseille, sondern auch in Genua und Korsika am ligurischen Meer. 

Im Mai 1798 sticht die mit über 400 Schiffen bis dahin größte Flotte, die Frankreich jemals auf-

geboten hat, in See, nimmt Kurs auf Korsika, Sardinien und Sizilien.  Nach der Eroberung Maltas

landet man Anfang Juli bei Alexandria in Ägypten.

Vz 3 [Mohammed feindlich…]  Die Franzosen können sich gegen die Mamelucken  - eine berittene

Kriegerkaste in Diensten der Osmanen -  durchsetzen, sind aber bei der Bevölkerung dennoch

unbeliebt wegen der hohen Abgaben, die den Ägyptern auferlegt werden.  Im September 1798

kommt es zu Aufständen, so dass die Truppen im Land gebunden sind.

Vz 3 [… mehr noch das Adriatische Meer]  Im August versenkt die britische Flotte unter Nelson den

größten Teil der französischen Armada bei Abukir.  Die Adria spielt im angegebenen Kontext keine

Rolle, sie bedeutet hier das Mittelmeer als ganzes (pars pro toto).  Und >das Meer< steht für die es

befahrenden Briten, damals Feinde der Franzosen.

Vz 2 [Gefangener von Inseln und Meeren]  Wegen Nelsons Blockade zur See können die Franzo-

sen nach der weitgehenden Zerstörung ihrer Flotte nicht mehr zurück.  Außer in Ägypten sitzen sie

auch auf Korsika und auf Malta fest.

 

„Napoleon und seine 55000 Mann waren abgeschnitten.  Man konnte keinen

Nachschub und keine Verstärkung mehr erhalten, vielleicht nicht einmal mehr

Briefe, und ganz gewiß konnte man die Frauen nicht nachkommen lassen.“

 

                Vincent Cronin, Napoleon, Stratege und Staatsmann, 7. Aufl. München 1995, S. 192

Vz 4 [Knochen abnagen]  Um die Landung türkischer Truppen in einem damals Syrien, heute

Israel genannten Land zu verhindern, bricht Bonaparte Anfang 1799 mit einem Teil der Truppen

dorthin auf.  In der Wüste gibt es Versorgungsprobleme. 

 

„Nach einem qualvollen Marsch durch die Wüste Sinai, auf dem man gezwungen

war, Esel und Kamele zu schlachten und zu essen, erreicht Napoleon mit seinen

Männern endlich die fruchtbare Ebene von Gaza …“

 

                Vincent Cronin, Napoleon, Stratege und Staatsmann, 7. Aufl. München 1995, S. 205

 

 

      Frankreich, erinnere dich an meine Worte 

 

03/24    De l‘ entreprinse grande confusion,/

Perte de gens, thresor innumerable:/

Tu ny dois faire encor extension (!)/

France à mon dire fais que sois recordable. (1555)

 

Des Unternehmens großes Durcheinander/

(führt zu) Verlust an Menschen, an zahllosen Werten./

Du sollst nicht nochmals eine Ausdehnung unternehmen,/

Frankreich, sieh zu, dass du dich an meine Worte erinnerst!

 

4) Mittelfrz. v. recorder wieder ins Gedächtnis rufen (rappeler à l‘ esprit),

sich an etw. erinnern (se rappeler).  Die Endung –able steht wegen des Reims.

 

 

Vz 3 [Ausdehnung]  Damit kann die Vergrößerung des Territoriums oder die Ausdehnung des

Machtbereichs durch Erwerb von Kolonien gemeint sein.  Im 17. Jahrhundert gründet Frankreich

Kolonien in Nordamerika, Indien usw.  Ludwig XIV. lässt schrittweise Städte und Dörfer jenseits

der Nord- und Ostgrenzen seinem Reich einverleiben.  Unter Napoleon wird ein System von

Satellitenstaaten im Osten und Süden Frankreichs gegründet, und man dringt vor bis in die

Levante.  Belgien wird 1801 französisches Territorium.  Der Bürgerkönig Louis-Philippe gründet

1830ff Kolonien in Afrika und Indochina.

[3/23 und 3/24]  In beiden Versen spricht N. sein Heimatland in direkter Rede an und will es

warnen.  Der „Ausdehnung“ hier entspricht dort die mit Expansionsabsichten unternommene

Fahrt über‘ s Meer. Beides spricht dafür, dass die Verse auch in der ursprünglichen Anordnung

aufeinander folgen. Dann müssten auch die übrigen Angaben von 3/24 auf den Ägyptenfeldzug

passen.

Vz 1 [großes Durcheinander]  Da ist zunächst das „große Durcheinander“, die Verworrenheit

des ganzen Projekts, angefangen bei der Zielstellung.  Um Großbritannien wirklich treffen zu

können, hätte zunächst die französische Marine verstärkt werden müssen.  Selbst wenn es

gelungen wäre, die britische Kolonie Indien von der Levante her zu erobern, wäre diese Erobe-

rung ohne eine der britischen ebenbürtige Marine kaum zu halten gewesen.  Der Feldzug ist ein

Abenteuer, das Bonaparte dazu dient, seinen in Italien erworbenen Ruhm warmzuhalten, wie er

sich einmal ausdrückt.  Merkwürdig ist, dass ihm das gelingt, obwohl der ganze Feldzug politisch

und militärisch zu einem völligen Fehlschlag gerät (Dufraisse, R., Napoleon, Revolutionär und

Monarch, München 1994 S. 38).  Seine Taten werden romantisch verklärt, und viele Europäer

lassen sich von der ägyptischen Geschichte und Kultur faszinieren.

Vz 2 [Verlust an Menschen und Werten]  Die Briten können 1801 nur etwa die Hälfte jener

französischen Soldaten zwangsweise in ihre Heimat verbringen, die 1798 mit Bonaparte

hinausgefahren sind.  Die andere Hälfte ist in Kämpfen mit Türken, Ägyptern und Briten umge-

kommen oder an Krankheiten wie der Beulenpest gestorben.  Die französische Marine ist

durch das Desaster von Abukir stark geschwächt.  Die Warnung des Sehers in den beiden

Versen hat also schon ihre Berechtigung gehabt.

 

         Exkurs (8)  Der Prophet als Warner

Er scheitert, sogar wenn er sich, anders als N., klar ausdrückt  -  daran, dass

Politiker und Militärs vorrangig an der Macht und weniger an der Wahrheit interessiert

sind, am deutlichsten zu beobachten in autoritären oder gar totalitären Regimen, aber

auch in Demokratien, wenn sie an Kriegen teilnehmen.  Männer der Tat verachten

prophetische Warnungen, weil diese die ethische Grundlage oder den Erfolg ihres

Handelns in Frage stellen.  Wahrheitssuche und Machtstreben zielen in entgegen-

gesetzte Richtungen.  Je konsequenter das eine angestrebt wird, desto mehr Abstriche

müssen beim anderen gemacht werden.  Wer wirklich an der Wahrheit interessiert ist

und deshalb Propheten Gehör schenkt, die eine echte Berufung erkennen lassen, kann

dort seine Skepsis bestätigt finden.

Die Vertreibung der Könige gilt dem Seher als ein Akt christlichen Ungehorsams,

als Folge der Nichtachtung von Gottes Geboten.  Die Herrscher >von unten<, von

Volkes Gnaden, die nach dem Ende des Königtums auftreten, sind ihm grundsätzlich

suspekt.  Spätestens nach dem Abgang der Könige von der geschichtlichen Bühne

würden die Mächtigen nicht mehr auf Berufene seines Schlages hören wollen,

dessen war er sich sicher.  Die Warnungen sind demnach nur anders formulierte

Vorhersagen.  Der wider besseres Wissen sich äußernde Wunsch einzugreifen

verdeutlicht, das N. ein Mensch war, den seine Gesichte nicht kalt ließen.  Es grauste

ihn vor der Verworrenheit, oft auch Verworfenheit des Tuns der Mächtigen und all

dem Elend, das dadurch heraufbeschworen wird.

Der Prophet scheitert im Großen, kann aber doch denen, die ihn anhören, Hilfe zur

Orientierung geben und hat dann seine Warnungen vor weltsüchtigen Eroberungs-

plänen, Machtmenschen und falschen Heilsbringern aller Art nicht gänzlich in den

Wind gesprochen.

 

 

     Nach der Exkursion verjagt ein Tyrann die Revolution

 

07/13    De la cité maritime & tributaire/

La teste raze prendra la satrapie:/

Chasser sordide qui puis sera contraire,/

Par quatorze ans tiendra la tyrannie. (1568)

 

Von der tributpflichtigen Stadt am Meer/

wird der geschorene Kopf die Satrapie nehmen./ 

(Die) Schmutzige verjagt einer, der dann (ihr) Gegner sein wird./

Vierzehn Jahre hindurch wird er die Tyrannei innehaben.

 

3) Adj sordide schmutzig, gemein, schäbig, niederträchtig; 

mittelfrz. n.m. contraire auch: Feind, Widersacher (ennemi, adversaire)

 

  

Vz 2 [Geschorener Kopf …]  Wie in 1/88 (Kap.25) und 5/60 (Kap.27) ist Napoleon Bonaparte

gemeint, dessen Kurzhaarfrisur (ab etwa 1800) absticht von den Vorgängern auf dem Thron,

die noch Perücken getragen haben.

Vz 1/2 [… nimmt Satrapie von tributpflichtiger Stadt am Meer]  Hier wird gern die Rückeroberung

der von den Briten besetzten Hafenstadt Toulon erkannt, bei der sich 1793 ein Hauptmann der

Artillerie namens Buonaparte erstmals hervortut.  Aber „tributpflichtig“ ist Toulon den Briten nicht,

und „satrapisch“, irgendwie orientalisch geartet ist die Besatzung auch nicht.  Im Juli 1798 geht

General Bonaparte nahe Alexandria an Land und verjagt die türkische Garnison der Stadt. 

Ägypten gehört damals zum Osmanischen Reich und ist diesem tributpflichtig.  Der von den

Türken eingesetzte Pascha ist der „Satrap“.  So hießen die Statthalter des persischen Groß-

königs und so heißt hier der Statthalter des osmanischen Sultans.  Die Franzosen besetzen

Kairo und beenden für wenige Jahre die türkische Oberherrschaft.

Vz 3 [… verjagt die Schmutzige]  Im Oktober 1799 kehrt Bonaparte zurück nach Paris.  Im

folgenden Monat putscht er sich an die Macht und „verjagt“ dadurch „die Schmutzige“  -  sie ist

eine Allegorie der Revolution und des Volkes der Revolution, s. Glossar unter dame Grecque

Die Politik des Direktoriums hat zu Bankrott, Anarchie und Sittenverfall geführt (Dufraisse, R.,

Napoleon, Revoltionär und Monarch, München 1994 S. 49).  Aber der Schmutz ergibt sich eigent-

lich aus dem Bild der >Hure< für ein Volk, das mit selbst auserkorenen >Liebhabern< >geht<,

indem es sich seine Herren selbst wählt, statt seinem >rechtmäßigen Gatten<, d.h. dem König

treu zu bleiben.  Und mit dem >Hurendasein< ist es nach dem Putsch vorbei, das Volk hat wieder

einen festen Herrn, wenn auch nicht den rechtmäßigen.

Vz 3/4 [… ist ihr Gegner/ Tyrann/ vierzehn Jahre lang]  Der „geschorene Kopf“ werde dem Volk

der Revolution „entgegengesetzt“, d.h. ein strengerer Zuchtmeister sein als das Ancien Régime,

er werde sich gar als „Tyrann“ erweisen.  Als Tyrann gilt Napoleon dem Seher wegen seines

despotischen Regimes im Innern, 6/57 (Kap.19), und in Europa, 1/75 (Kap.20).  Im November

1799 an die Macht gekommen, 1804 zum Kaiser aufgestiegen, muss der Emporkömmling im

April 1814 abdanken, nach 14 Jahren und fünf Monaten.

 

 

    Ein Kind verachtet seine Mutter

 

07/11    L‘ enfant Royal contemnera a la mere,/

Oeil, piedz blesses, rude, inobeissant,/

Nouuelle à dame estrange & bien amere,/

Seront tués des siens plus de cinq cens.  (1568)

 

Das königliche Kind wird die Mutter gering schätzen,/

(an) Auge, Füßen verletzt, rücksichtslos, ungehorsam./

Neuigkeit für die Dame befremdlich und recht bitter,/

Es werden getötet von den Ihren mehr als fünfhundert.

 

1) Mittelfrz. v. contemner verachten (mépriser), gering schätzen (dédaigner)

 

  

Vz 1/3 [Mutter/ Dame]  Wie alle Franzosen ist Napoleon Kind seines Volkes.  Diese >Mutter<

aber hängt den Idealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit an und setzt sie zwanzig Jahre

nach Napoleons Geburt in einer Revolution auch durch.  Diese >Mutter< ermöglicht ihrem Kind

Napoleon durch ihre demokratische und egalitäre Gesinnung eine Karriere, wie sie vorher nicht

möglich gewesen wäre.  Napoleon ist ein Kind des revolutionären Frankreich, 5/61 (Kap.22).

Vz 2 [an Auge, Füßen verletzt]  Die letzten 15 Monate vor seinem Staatsstreich hat Napoleon in

Ägypten zugebracht, hat zwar das Land erobert, aber den größten Teil seiner Kriegsflotte verloren. 

Die Instabilität seines Regimes in Ägypten und der seit der desaströsen Niederlage bei Abukir

fehlende Schiffsraum machen seine Armee zu Gefangenen des Landes, 3/23 Vz 2 (s.o.),

und später der Briten.  Nicht er persönlich, aber die Armee, deren Kopf er gewesen ist, hat ihre

Bewegungsfreiheit verloren, ist in diesem Sinn >an den Füßen verletzt<.  Die >Augenverletzung<

steht wohl für den Mangel an Augenmaß und Weitsicht, den das ganze Projekt erkennen lässt. 

Politisch und militärisch hat es Frankreich nur Verluste eingebracht.

Vz 2 [rücksichtslos, ungehorsam/ Königliches Kind]  Indem General Napoleon mit seinen Ver-

bündeten gegen das Direktorium unter Bruch der Verfassung einen Militärputsch veranstaltet,

erweist sich dieses Kind des revolutionären Frankreich als „rücksichtslos“.  „Ungehorsam“

gegen seine demokratische und egalitäre Mutter, errichtet Napoleon ein autoritäres Regime,

dessen Nutznießer die zu Geld und Gütern gekommenen Bürger sind.  Und daran, dass dieses

Kind „königlich“ heißt, ist ablesbar, dass es noch bis zum Stand eines Fürsten aufsteigen werde.

Vz 1/3/4 [schätzt Mutter gering/ bittere Neuigkeit/ mehr als 500 getötet]  Die Geringschätzung der

Mutter gilt dem heruntergekommenen Zustand des Landes und der schlechten Regierung, die es

so weit hat kommen lassen.  Zudem lässt die Errichtung einer Diktatur die Geringschätzung der

demokratischen und egalitären Gesinnung der >Mutter< erkennen.  Die „Ihren“ sind die alten

Institutionen der Ära des Direktoriums, nämlich der Rat der Alten und der Rat der 500;  diese

Institutionen werden durch die neue Verfassung abgeschafft.  Ihre Mitglieder sind politisch tot.

 

 

    Die alte Regierung hat den Putschisten eingeladen

 

04/26    Lou grand essayme se leuera d‘ abelhos,/

Que non sauran don te siegen venguddos/

Denuech l‘ ebousqq;, lou gach dessous las treilhos,/

Cieutad trahido p cinq lêngos nô nudos.  (1555)

 

Der große Bienenschwarm wird sich erheben,/

und man wird nicht wissen, woher sie gekommen sind./

Nachts der Hinterhalt, der Verderber unter den Weinstöcken,/

(die) Stadt preisgegeben durch fünf nicht wehrlose Sprecher.

 

1) Prov. essayme Schwarm (essaim), prov. abelho Biene (abeille)

3) Prov. embousque Hinterhalt (embuscade).  Franz. n.m. gâcheur Verderber,

Pfuscher.  Prov. trelhau Weinspalier (treillage)

4) Prov. cioudad Stadt (cité), prov. lenguo Sprache, Zunge (langue),

lengaud Schwätzer (bavard).

 

 

Vz 3/4 [Hinterhalt nachts/ Stadt preisgegeben durch fünf nicht wehrlose Sprecher]  „Die Stadt“,

ohne nähere Bezeichnung, ist meistens Paris, seltener London, s. Glossar.  Das Direktorium,

das seit 1795 Frankreich regiert, besteht aus fünf Direktoren.  Es „erhebt sich“ jemand gegen

diese Regierung, die bankrott ist und die Anarchie nicht aufhalten kann.  Zwei der Direktoren,

Sieyès und Roger-Ducos, sind eingeweiht in die Pläne, ein Dritter, Barras, lässt sich kaufen. 

Weil man die bestehende Verfassung bricht, ist es ein Staatsstreich, ein Coup, der heimlich,

>nachts< vorbereitet werden muss.  Als es losgeht, schreibt man den 18. Brumaire des Jahres

VIII der Republik, den 9. November anno domini 1799. 

 

„Der Coup wurde verwirklicht von Leuten, die nicht danach trachteten, die

Macht an sich zu reißen, sondern danach, die Macht zu behalten, denn sie

waren bereits wesentliche Bestandteile des direktorialen Systems. 

Der Staatsstreich erfolgte mit Beteiligung von zwei der fünf Direktoren, mit

dem Einverständnis des Rates der Alten und in dem Wunsch, Gewaltakte zu

vermeiden.  In der Vorstellung dieser Leute sollte Bonaparte lediglich

ausführendes Instrument sein.“

 

              R. Dufraisse, Napoleon, Revolutionär und Monarch, München 1994 S. 41

Mehrere der „fünf Sprecher“ sind also „nicht nackt“, d.h. nicht wehrlos oder machtlos dem Coup

ausgeliefert.  Das Bürgertum will die Ordnung im Land wiederherstellen und lässt einen popu-

lären General an die Macht kommen. 

Vz 1 [großer Bienenschwarm erhebt sich]  Später als Kaiser lässt Napoleon neben dem Adler

Bienen in sein Wappen aufnehmen.  Er will damit die Tradition der bourbonischen Lilie brechen

und an Chlodwig anknüpfen, den Merowingerkönig, der im fünften Jahrhundert ein Frankenreich

gegründet hat.

Vz 2 [man wird nicht wissen, woher sie kamen]  An eine längst erloschene heraldische Tradition

könne man nicht gültig anknüpfen, meint N.  Man werde nicht wissen, womit ein Mann aus der

Provinz seine Herrschaft begründe.  Den Mangel an Legitimität und dynastischer Tradition werde

er nicht verbergen können. Der Vers ist komplett in Provencal verfasst, der südfranzösischen

Sprache, die für den Hauptstadtbewohner hinterwäldlerisch klingt.  „Die Stadt“ werde an einen

Mann aus der hintersten Provinz „verraten“ werden.

 

 

    Ein Usurpator betrügt das Volk der Revolution, bringt es um die Freiheit

 

05/05    Souz ombre fainte d’ oster de seruitude,/

Peuple & cité l’ usurpera luy mesmes./

Pire fera par fraux de ieune pute,/

Liure au champ lisant le faux proesme.  (1568)

 

Unter dem fingierten Vorwand, aus der Knechtschaft zu führen/

Volk und Stadt, wird er sie selbst widerrechtlich ergreifen./

Ärgeres wird er tun durch Betrug des jungen Flittchens,/ 

auf ´s Schlachtfeld gelassen, verkündet er das verkehrte Vorwort.

 

1) Mittelfrz. n.m. ombre u.a. Vorwand (prétexte)

3) Der Betrug des jungen Flittchens ist doppeldeutig, entweder sie betrügt

oder sie wird betrogen.  Die Deutung ergibt, dass Letzteres gemeint ist.

4) Mittelfrz. n.m. champ Schlachtfeld (champ de bataille). 

Proesme ist ein verschriebenes proeme, das mittelfrz. n.m. proeme

bedeutet Vorwort, Geleitwort (prologue, préface)

 

 

Vz 1 [Unter dem Vorwand, aus der Knechtschaft zu führen …]  Der Coup (Staatsstreich) wird

in der Presse und durch Plakate begleitet.  Es wird der Eindruck erweckt, dass die Republik

in Gefahr sei und nur ein erfolgreicher Feldherr wie Napoleon den Frieden bringen könne. 

Der „Vorwand, Volk und Stadt aus der Knechtschaft zu führen“, bedeutet, dass angegeben wird,

das Volk auf dem in der Revolution eingeschlagenen Weg in die Freiheit weiterzuführen.  

 

„Eine Pressekampagne wurde gestartet und die Idee des notwendigen Friedens

geschickt mit der einer Verfassungsänderung verknüpft.  Um die zwingende

Notwendigkeit der letzteren zu propagieren, wurde die Diskussion in der Presse

so geführt, als seien die Freiheit durch eine royalistische Restauration und das Eigentum durch eine bevorstehende gesellschaftliche Revolution gefährdet.“

 

                R. Dufraisse, Napoleon, Revolutionär und Monarch, München 1994, S. 45 

Vz 2 [… wird er sie selbst usurpieren]  Usurpieren heißt widerrechtlich in Besitz nehmen. 

Napoleon reißt die Macht an sich, und die Popularität seiner Person verdeckt, dass er sein Amt

keiner Wahl verdankt.  Die neue Verfassung wird durch ein Referendum bestätigt mit Mehrheiten,

wie sie für Diktaturen üblich sind.  Für N. ist der Coup widerrechtlich, weil durch ihn nicht die alte,

allein legitime Königsherrschaft wiederhergestellt wird.

Vz 3 [Schlimmer der Betrug des jungen Flittchens]  Schlimmer als der Staatsstreich, der unblutig

verläuft, werde für das Land sein, was der Usurpator tut, wenn er einmal an der Macht ist.  Das

>junge Flittchen<, das Volk der ersten Republik, muss hinnehmen, dass es einen Despoten als

festen >Herrn< erhält.  Dem >Flittchen< hat er versprochen, an den Prinzipien der Revolution

festzuhalten.  Aber mit der Freiheit ist es bald nicht mehr weit her, er lässt seine Bürger bespitzeln

und verbietet die gegnerische Presse.  Ähnlich wird es der Gleichheit ergehen  -  später als Kaiser

schafft er einen neuen erblichen Adel.

Vz 4 [Auf ‘s Schlachtfeld gelassen, verkündet er verkehrtes Vorwort] 

 

„Vor Beginn des Feldzugs (April 1800) macht er zum ersten Mal Gebrauch von

der Methode, die er bis zuletzt anwenden sollte:  Er richtet eine Proklamation an

die Franzosen, in der er ihnen mitteilte, daß er lediglich deshalb Krieg führe, um

ihnen einen endgültigen Frieden zu bringen.“

 

                R. Dufraisse, Napoleon, Revolutionär und Monarch, München 1994, S. 73

Er werde  n i c h t  den versprochenen Frieden bringen.  Und das trifft ein.  Solange er an der

Macht ist, führt Napoleon praktisch immer Krieg, weil er darin am erfolgreichsten ist und weil

seine Herrschaft nicht ererbt, sondern durch Siege errungen ist und aufrechterhalten wird. 

Das gehört auch ausdrücklich zu seinem Selbstverständnis.

 

Napoleon:  „Ein erster Konsul gleicht nicht jenen Königen von Gottes Gnaden,

die ihre Staaten als Erbteil betrachten.  Er braucht spektakuläre Ereignisse und

also den Krieg.“

 

              nach: P.C. Hartmann, Französische Könige und Kaiser der Neuzeit, München 1994 S.329

 

 

    Eine große Armee zieht über die Alpen

 

05/20    Dela les Alpes grande armée passera,/

Vn peu deuant naistra monstre vapin:/

Prodigieux & subit tournera/

Le grand Tosquan à son lieu plus propin.  (1568)

 

Über die Alpen hinaus wird eine große Armee ziehen,/

kurz vorher wird (das) rauchende Untier erscheinen./

Erstaunlich(erweise) und plötzlich wird zurückkehren/

der große Toskaner an einen näheren Ort.

          

2) Zum Untier s. Glossar unter monstre.

Mittelfrz. n.f. vapeur auch: Rauch (fumeur);  das Adjektiv vapin

ist in Anlehnung an das Substantiv vapeur gebildet.

4) Entweder ist das Adjektiv propice gnädig, günstig hier reimbedingt

abgewandelt;  oder es ist das verkürzte lat. Adj. propinquus benachbart.

 

 

Vz 1 [große Armee zieht über die Alpen hinaus]  Im Frühjahr 1800 zieht eine Armee unter dem

ersten Konsul Bonaparte über die Alpenpässe Kleiner und Großer St. Bernhard sowie über den

St. Gotthard und dringt vor in die oberitalienische Ebene.  „Große Armee“ ist der französische

Fachbegriff für die militärische Hauptmacht in einem Feldzug.

Vz 3/4 [Großer Toskaner geht an näheren Ort]  Nach Siegen der französischen Armeen gegen

die Österreicher bei Marengo und bei Hohenlinden muss Ferdinand III., Großherzog von Toskana,

im Frieden von Lunéville vom Februar 1801 auf sein Land verzichten.  Auf dessen Boden wird

das Königreich Etrurien von den Franzosen  ausgerufen.  Ferdinand III. stammt aus dem Haus

Habsburg-Lothringen, wird nach seiner Vertreibung aus der Toskana Kurfürst von Salzburg, ein

für den Habsburger „günstigerer“ oder „näherer“ Ort. 

Vz 2 [kurz vorher erscheint rauchendes Untier]  Meist wird hier die Dampfmaschine erkannt, die

im 18. Jahrhundert erfunden und Ende der 1780er Jahre erstmals in industriellem Maßstab ein-

gesetzt wird.  Vom Wortlaut her ist diese Deutung möglich, aber wenig wahrscheinlich, denn für

technische Erfindungen hat N. sich nicht sonderlich interessiert (Ausnahme: Neue Erkenntnisse

der Astronomie, 4/33 (Kap.27)).   

Das >rauchende Untier< ist der Drache als Bild für die widergöttliche Macht, sein Feuerspeien

und Rauchen ein Bild ihres Zorns.  In der französischen Revolution erkennt N. das Wirken und

Wüten dieser Macht, weil die Franzosen ihrem weltlichen Herren den geschuldeten Gehorsam

(Römerbrief Kapitel 13 Vers 4-12) verweigern.  Nach 1789 wird ein Vierteljahrhundert lang in

Europa Krieg geführt.  Der zweite Koalitionskrieg stürzt in der Toskana die Herrschaftsverhält-

nisse um.  Die zwölf Jahre von 1789 bis 1801 sind aus des Sehers Perspektive „kurz“.