Kapitel 19 Napoleon: Herkunft und Karriere
Auszug aus dem historischen Inhaltsverzeichnis
01/76 Nomen est omen
01/60 Ein Kaiser, geboren nah bei Italien
03/35 Ein begabter Redner, Feldherr und Verführer
06/57 Hervorgegangen aus der Revolution
08/57 Vom kurzen Rock zum langen
Nomen est omen
01/76 D‘ vn nom farouche tel proferé sera,/ Que les troys seurs auront fato le nom:/ Puis grand peuple par langue & faict duira/ Plus que nul autre aura bruit & renom. (1555)
Einen unbändigen Namen wird er haben, so deutlich,/ dass die drei Schwestern ihn prophetisch verkündet haben./ Dann wird er ein großes Volk durch Sprache und Tat führen,/ keines Anderen Aufsehen und Ruhm werden weiter reichen.
1) V. proférer vorbringen, laut werden lassen, artikulieren. Wörtlich: „Eines unbändigen Namens wird er sein …“ 2) Lat. v. fari (for, fatus sum) in feierlichem, prophetischem Ton sagen, verkünden, lat. n.m. fatum Götterspruch, Weissagung, Schicksal. Das Prädikat auront fato ist ein Gemenge aus Französisch und Latein. 3) Mittelfrz. n.m. bruit Ansehen (réputation), guter Ruf (renommée), Ruhm (gloire), modernes n.m. bruit Geräusch, Lärm, Aufsehen
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Vz 1 [Unbändiger Name …] Napo l e o n e ist ein „unbändiger“ oder „wilder“ Name, weil ein
Raubtier wie der Löwe schwer zu zähmen ist. Man kann ihn nur wegsperren oder töten. Der
Gemeinte wird am 15.8.1769 in Ajaccio auf Korsika geboren, das bis 1768 zu Genua gehört hat,
als Napoleone Buonaparte.
Vz 2 [… von drei Schwestern …] Die „drei Schwestern“ sind die Parzen des Mythos namens
Klotho, Lachesis und Atropos, die den Menschen den ihnen gebührenden Anteil (moira)
- an der Zeit - zuteilen. Für ihre Weissagungen sind sie gefürchtet. Schon der Name gilt im
Mythos als Weissagung.
Vz 2 [… prophetisch verkündet] Am Namen des Korsen sei sein wahres Wesen abzulesen,
meint N. Im letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung des Johannes, haben die Heuschrecken,
die die Menschen quälen, „als König über sich den Engel des Abgrunds; er heißt auf hebräisch
Abbadon, auf griechisch Apollyon“, Offenbarung Kapitel 9 Vers 11. Abgesehen vom N am Wort-
anfang, hat Apollyon einen ähnlichen Klang wie Napoleon. Griechisch apollyon bedeutet
„Verderben bringend“, „zerstörend“. Am Namen erkennt N. einen Verderber, der die Menschen
quält.
Vz 3 [führt ein großes Volk durch Sprache und Tat] Napoleon, von Beruf Soldat, erweist sich als
taktisches und strategisches Genie. Er führt Armeen und nach dem Staatsstreich von 1799 auch
das „Volk“ der Franzosen. Diese wird seit 1789 für „groß“ gehalten, d.h. bewundert wegen der
erfolgreichen Revolution, 5/61 (Kap.22) Die „Sprache“ verweist auf die demagogische Bega-
bung des Korsen, die im Mai 1796 ihren Einstand gibt.
„Die Schlacht bei Lodi kennzeichnet ein neues Stadium in Napoleons Entwicklung ..Hier .. hatte er angesichts einer großen Übermacht eine zerlumpte, seit Monaten mit Kartoffeln und Kastanien schlecht ernährte Truppe zu höchstem Mut angespornt und zum Sieg geführt. In Lodi wurde er sich zum ersten Mal seiner Macht als Menschenführer bewußt.“
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Vincent Cronin, Napoelon, Stratege und Staatsmann, 7. Aufl., München 1995 S. 51
Vz 4 [weitreichender Ruhm] Für einige Jahre hat er den europäischen Kontinent so dominiert wie
kein anderer französischer Herrscher vor ihm. Er ist sicherlich der bekannteste Franzose aller Zeiten.
Ein Kaiser, geboren nah bei Italien
01/60 Vn Empereur naistra pres d‘ Italie,/ Qui a l‘ Empire sera vendu bien cher,/ Diront auecques quels gens il se ralie/ Qu‘ on trouuera moins prince que boucher. (1555)
Ein Kaiser wird nah bei Italien geboren,/ der das Kaiserreich recht teuer zu stehen kommen wird./ Sie werden sagen: Mit was für Leuten er sich umgibt !?/ Man wird weniger einem Fürsten als einem Metzger begegnen.
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Vz 1 [Kaiser nah bei Italien geboren] Kaiser war man nie von Geburt an, Kaiser wurden gewählt.
Napoleon wird als Kind niederen Landadels geboren und legt sich mit 35 Jahren den Kaisertitel
zu. Der Geburtsort Ajaccio auf Korsika liegt geographisch näher bei Italien als bei Frankreich,
zu dem die Insel auch erst seit 1768 gehört.
Vz 3 [Verwunderung über seine Umgebung] Er umgibt sich auf den Feldzügen mit den fähigsten
und tapfersten Offizieren und legt als Kind der Revolution auf adlige Herkunft keinen Wert.
In Erscheinung und Auftreten unterscheiden sich seine Haudegen deutlich von adligen Offizieren
der Vergangenheit mit ihren geschliffenen Manieren.
„Da war der ehemalige Schmuggler Masséna, ein hagerer, sehniger Mann, der wie ein Adler aussah und den Blick eines Adlers für das Terrain hatte… Er war von seinen Männern zum Oberst gewählt worden und nun General - ein trockener, schweigsamer, mürrischer Kauz. Ein anderer aus dem Mannschaftsstand aufgestiegener General war Charles Augerau, ein hochgewachsener, schwatz- hafter, zotenreißender Pariser, ein Mann von der Straße, der in Konstantinopel Uhren verkauft, in der russischen Armee gedient und eine junge Griechin nach Lissabon entführt hatte und bei alledem doch ein Offizier war, der auf strengste Disziplin hielt …“
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Vincent Cronin a.a.O. S. 139/40
Die wichtigsten Leitungspositionen seines Empire besetzt der Korse später mit Mitgliedern
seines Familienclans, worüber sich dann allerdings niemand mehr wundert.
Vz 2/4 [kommt das Land teuer zu stehen/ mehr Metzger als Fürst] Dass Napoleon ein Mann ist,
dem die Gefallenen seiner Kriege nichts bedeuten, kommt in der Bemerkung zum Ausdruck, die
er gegenüber dem österreichischen Kaiser Franz I. gemacht haben soll; für einen Mann seines
Formats seien eine Million gefallene Soldaten völlig bedeutungslos, soll er geäußert haben.
Aber auch ökonomisch wird seine Menschenverachtung teuer für das Land.
„Die napoleonischen Kriege sind verantwortlich dafür, daß sich Frankreichs Einfluß in Europa verringerte. In diesen Kriegen hat das Land ungefähr eine Million Menschen verloren … Der Aderlaß des Krieges erklärt weitgehend den Niedergang der Macht Frankreichs nach 1815. Nie mehr wird Frankreich imstande sein, aus eigener Kraft einen siegreichen Krieg in Europa zu führen.“
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Roger Dufraisse, Napoleon, Revolutionär und Monarch, München 1994 S. 160
Ein begabter Redner, Feldherr und Verführer
03/35 De plus profond de l‘ Occident d‘ Europe,/ De pauures gens vn ieune enfant naistra,/ Qui par sa langue seduira grande troupe:/ Son bruit au regne d’ Orient plus croistra. (1555)
Im hintersten Winkel des abendländischen Europa/ wird von armen Leuten ein kleines Kind geboren./ Es wird durch seine Sprache (eine) große Armee verführen,/ sein Ruhm wird im Reich des Orients noch stärker wachsen.
1) Wörtlich: „Vom untersten Grund …“ oder „Aus tiefster Tiefe …“ 4) Zum n.m. bruit s. Anmerkung zu Vers 1/76 oben. Das regne d‘ Orient kann Reich des Orients oder Reich des Ostens bedeuten.
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Vz 3 [Führt große Armee durch Sprache] Ein Europäer von niederer Geburt steigt zum Feldherrn
auf. Als Rhetoriker führt er eine „große Armee“. Es kommen Napoleon und Hitler in Frage, beide
Emporkömmlinge, Feldherren und begabte Redner. Besser passt es auf Napoleon, weil der oft
unmittelbar zu seinen Soldaten spricht und sie mitreißen kann, während Hitlers Reden an Zivilisten
und später an das ganze Volk gerichtet sind.
Vz 4 [Ruhm im Orient] Damit kann der Ägypten- oder der Russlandfeldzug gemeint sein, weil
orient bei N. auch Osten bedeuten kann, 5/81 (Kap.37). Beide Feldzüge scheitern, die ange-
strebten militärischen und politischen Ziele werden nicht erreicht. Dennoch erwirbt sich Napoleon
mit dem Ägyptenfeldzug einen Ruhm bei den Europäern, der nicht auf militärischen oder politi-
schen Erfolgen beruht, 3/24 Vz 1 (Kap.21).
Vz 1/2/3 [im hintersten Winkel von armen Leuten geboren/ Verführer] Herkunft aus der hintersten
Provinz, arme Eltern (die Buonapartes waren nicht reich, aber auch nicht arm), Verführung und
zweifelhafter Ruhm zeichnen vergröbernd das Bild eines Mannes, den der Seher als nicht zum
Herrschen berufen darstellen will. Zudem wird - in ironisch-sarkastischem Ton - auf die Herkunft
Christi aus einer Provinz am Rande des römischen Weltreichs angespielt. Nicht wenige Zeitge-
nossen auch anderer Nationen feiern den jungen Napoleon als Befreier vom Joch der Fürsten
wie einen Messias. N. aber erkennt in Napoleon einen Repräsentanten der Revolution.
Wer Befreiung und Heil von einem weltlichen Reich erwartet, das aus einer Revolution hervorge-
gangen ist, sei einem Verführer erlegen. Das Verführen einer Armee im Besonderen kann die
Missbilligung der Kriegsziele bedeuten, kann aber auch Niederlagen ankündigen.
Hervorgegangen aus der Revolution
06/57 Celuy qu‘ estoit bien auant dans le regne,/ Ayant chef rouge proche à la hierarchie:/ Aspre & cruel, & fera tant craindre,/ Succedera à sacré monarchie. (1568)
Jener, der es weit gebracht hat in der Herrschaft,/ mit (einem) roten Vorgesetzten nah bei der Hierarchie,/ (ist) hart und grausam und wird dafür sorgen, dass man ihn sehr fürchtet./ Er wird die heilige Monarchie beerben.
2) Die adverbielle Bestimmung proche à la hierarchie könnte sich statt auf chef auch auf das Subjekt celuy beziehen. Aber das passt nicht zur angegebenen Deutung und ist daher nicht gemeint.
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Vz 1 bis 4 [Ausscheidender Kandidat] >Rot< nennt N. auch Revolutionäre, denen ihre Ziele >heilig<
sind und bei denen sich bald >Hierarchien< herausbilden, auch wenn die Ideologie egalitär ist.
Robespierre steigt 1793 zum mächtigsten Mann der Republik auf. Wegen der vielen Bluturteile,
die unter seinem Einfluss zustande kommen, ist er „sehr gefürchtet“. Aber vor seiner politischen
Karriere ist er nur Anwalt gewesen, hat es also n i c h t „weit gebracht in der Herrschaft“.
Vz 2 [roter Vorgesetzter] Buonaparte hat als Hauptmann der Artillerie bei der Rückeroberung
Toulons von den Briten erfolgreich mitgewirkt und wird am 22.12.1793 auf Vorschlag des Kommis-
sars Augustin Robespierre zum Brigadegeneral befördert. Nach dem Ende der Schreckensherr-
schaft wird er von Barras, einem Mitglied des Wohlfahrtsausschusses, protegiert. Dieses Mitglied
der aus der Revolution hervorgegangenen >roten< Regierung ist damals Napoleons „Chef“.
Vz 1 [weit gebracht in der Herrschaft] Carnot, im neuen Direktorium zuständig für das Militär,
lässt den 26jährigen im März 1796 zum Oberkommandierenden der Italien-Armee ernennen.
Zwei Jahre später wird er zum Oberkommandierenden des Ägypten-Projekts ernannt. Nach
Paris zurückgekehrt, führt er einen Putsch an und lässt sich zum ersten Konsul auf zehn Jahre,
später auf Lebenszeit ernennen. Damit hat er es schon „weit gebracht in der Herrschaft“.
Vz 3/4 [sehr gefürchtet/ beerbt die Monarchie] Nach dem Staatsstreich vom 8./9. November 1799
errichtet Napoleon eine Militärdiktatur mit demokratischem Anstrich. Sein Regime, besonders
Polizeiminister Fouché, ist im Innern gefürchtet. Das Ausland lernt seine überlegene Kriegskunst
kennen und fürchten. Im Dezember 1804 krönt sich Napoleon zum Kaiser und will damit „die
heilige Monarchie“ beerben - die wirkliche „Hierarchie“, d.h. heilige Herrschaft, 4/64 (Kap.27).
Vom kurzen Rock zum langen
08/57 De souldat simple paruiendra en empire,/ De robe courte Paruiendra à la longue/ Vaillant aux armes en eglise ou plus pyre,/ Vexer les prestres comme l’ eau fait l’ esponge. (1568)
Vom einfachen Soldaten wird er emporkommen zum Kaiser,/ vom kurzen Rock wird er es bringen zum langen./ Beherzt mit Waffen, für die Kirche noch viel schlimmer,/ plagt er die Priester, wie der Schwamm es (mit) Wasser macht.
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Vz 1 [vom einfachen Soldaten emporgekommen] Im September 1785, mit sechzehn Jahren
erwirbt Napoleone Buonaparte das Offizierspatent eines Leutnants der Artillerie, „einfacher Soldat“
war er nie. Dem noch völlig Unbekannten und Undekorierten eröffnet erst die Revolution von 1789
die Möglichkeit einer glänzenden Militärkarriere, wie sie ein Korse aus niedrigem Landadel vorher
nicht hätte machen können. Er kommt, gemessen am Maßstab des Ancien Régime, von ganz unten.
Vz 2/3 [beherzt mit Waffen/ langer Rock] Der Mann erweist sich für die aus der Revolution hervor-
gegangenen Regierungen als „tüchtig mit Waffen“. Seine Karriere, auch das wallende Ornat des
Kaisers, verdankt er seinen außerordentlichen militärischen Fähigkeiten.
Vz 4 [plagt die Priester wie ein Schwamm] Mit der katholischen Kirche geht er recht unsanft um,
Friedensschlüsse oder Waffenstillstände lässt er sich teuer bezahlen, mit Geldsummen, aber auch
mit Kunstschätzen. Das durch Revolution und Bürgerkrieg verarmte Frankreich gleicht einem
Schwamm, dem das >Wasser< aus der Umgebung gut tut. Frankreich wird wieder >flüssig< durch
seine reichen Feinde.