Kapitel 18 Die Schreckensherrschaft
Als Schreckensherrschaft wird die Diktatur der Jakobiner in den
Jahren 1793/94 bezeichnet. Sie errichten ein totalitäres Regime,
das sich der Mittel des Polizei- und Justizterrors bedient.
Diese Diktatur entsteht, als die junge Republik sich gegen äußere
Feinde der Revolution und gegen Aufstände im Innern behaupten
will. Mit der Levée en masse, der militärischen Mobilisierung
des Volkes gegen die Koalitionsheere, sowie mit politischem
Terror im Innern wollen die neuen Machthaber der Lage Herr werden.
Sie haben Erfolg, aber um den Preis des Verrats an den Idealen
der Revolution; Freiheit, Brüderlichkeit und Menschenrechte
werden massenweise und schwerer beschädigt als zu Zeiten der
Monarchie.
Auszug aus dem historischen Inhaltsverzeichnis
04/49 Die Hinrichtung des Königs als Blutschuld des Volkes
Exkurs (7) Zur Schreckensherrschaft im Namen der Vernunft
09/74 Heidnische Menschenopfer
10/57 Das Gesetz über Verdächtige (September 1793)
Emporgekommener versteht sich nicht auf sein Zepter
01/81 Fraktionen im Wohlfahrtsausschuss
Die Hinrichtung des Königs als Blutschuld des Volkes
04/49 Deuant le peuple sang sera respandu/ Que du haut ciel ne viendra eslogner:/ Mais d‘ vn long temps ne sera entendu/ L’ esprit d’ vn seul le viendra tesmoigner. (1555)
Vor dem Volk wird Blut vergossen werden,/ welches (der) vom Himmel nicht wird abwaschen wollen./ Aber für lange Zeit wird das nicht verstanden werden,/ der Geist eines Alleinstehenden wird das bezeugen.
2) Das v. éloigner entfernen, beseitigen darf hier im Kontext mit „Blut“ durch „abwaschen“ wiedergegeben werden.
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Vz 1 [vor dem Volk Blut vergossen] Gemeint ist das Blut Ludwigs XVI., der am 21.1.1793 öffent-
lich hingerichtet wird. Von dieser Szene handeln noch mehrere andere Verse, die in Kapitel 17
zusammengestellt sind. Hier geht es um die langfristigen Wirkungen dieser Tat in der Schau
des Sehers.
Vz 2 [Schuld…] Die Aussage lautet, dass Gott es den Franzosen nicht vergeben werde, dass
sie ihren König töteten. Das werde man daran erkennen, dass es von 1793 an lange, nämlich
über zweihundert Jahre dauern werde, bis dem französischen Volk wieder ein König von Gott
gesandt wird, 10/72 [XIV]. Die Visionen und ihre Deutung durch den Seher sind in solchen
Aussagen eng miteinander verknüpft.
Vz 3 […wird geleugnet] Aber dass überhaupt eine Blutschuld, gar noch eine lange Zeit weiter-
wirkende Blutschuld auf dem französischen Volk lastet, wird von diesem geleugnet. Denn die
Prinzipien der Revolution werden hochgehalten, und ein schlechtes Gewissen wegen Ludwig XVI.
hat heute wohl kein Franzose mehr. Man werde weder die ethische noch die prophetische
Aussage des Verses verstehen (entendre). Was es ist, von dem der Seher meint, dass man es
nicht begreifen werde, wird im Folgenden skizziert.
Exkurs (7) Zur Schreckensherrschaft im Namen der Vernunft
Zu Zeiten des Sehers wird das Königtum noch nicht in Frage gestellt.
Man glaubt, dass jedes Volk eine Königsstelle, den Thron habe, etwa so
wie jedes Kind eine Vaterstelle hat. Der Vater des Kindes ist notwendiger
Teil seines Lebens, und seine Stelle kann unbesetzt bleiben, aber nicht aus
der Welt geschafft werden. Dementsprechend kann auch der Thron zwar
unbesetzt bleiben, aber nicht abgeschafft werden. Denn der König ist von
Gott als Vermittler dessen eingesetzt, was dem Volk von Gott her bestimmt
ist. Man kann den König hinrichten, auch dessen ganze Familie töten, aber
der Thron als die transzendental, d.h. im Glauben fundierte Königsstelle ist
nicht aufhebbar.
Will man davon nichts wissen, dann tritt nach der Abschaffung des Königtums
(in Frankreich im August 1792, Hinrichtung im Januar 1793), mit der auch die
Regeln der Erbfolge, d.h. des friedlichen Übergangs, über Bord gehen, der
Urzustand in Geltung: Der neue König wird ausgekämpft, gleich unter welcher
zivilen und ideologischen Maske. Charakteristisch für das Blutvergießen von
1793/94 ist die Ziellosigkeit der über Tod und Leben entscheidenden Instanzen.
Es kann jeden treffen. Die Schreckensherrschaft erscheint bei N. als Opferkult,
1/44 (Kap.15), durch den eine erzürnte Gottheit versöhnt werden soll, von der
man nicht recht weiß, was oder wen sie eigentlich fordert. Namen des neuen
Götzen sind Vernunft und Tugend, und es geht darum, wer in ihrem Namen die
Königsstelle einnimmt.
Für Nostradamus wird in den Jahren ab 1789 der Zugang zu jener Instanz
langfristig verbaut, die allein das Recht wirksam schützen kann - eine Instanz,
die auch in nicht mehr ferner Zukunft sich als geeignet erweisen könnte, der
Gefahr zu begegnen, dass eine vom Kollektiv ausgehende Herrschaft, gleich
welcher ideologischen Prägung, ins Totalitäre und Menschenverachtende
umschlägt. Voraussetzung ist freilich, dass der Glaube der Menschen und der
daraus erwachsende Gehorsam gegenüber Gott und in weltlichen Dingen auch
gegenüber dem weltlichen Herrn wieder stark genug ist.
[Ist Vers 4/49 also erfüllt ?] Die erste Verszeile erfüllte sich 1793, die Verszeilen 2 und 3 sind
im Begriff, sich zu erfüllen, denn die „lange Zeit“ des Fortwirkens der Blutschuld dauert bis zu
dem Tag, da Frankreich wieder einen König haben wird. Die letzte Zeile, der zufolge ein Geist-
licher das Königtum dieses Königs bezeugt, ist noch nicht erfüllt.
Heidnische Menschenopfer
09/74 Dans la cité de Fertsod homicide,/ Fait & fait multe beuf arant ne macter,/ Retour encores aux honneurs d’ Artemide,/ Et à Vulcan corps morts sepulturer. (1568)
In der Stadt des mächtigen Aufstands (wird) Menschentötung/ geschehen, oft geschehen, um pflügende Ochsen nicht zu opfern./ Rückkehr wieder zu den Ehrungen der Artemis,/ und dem Vulcan begraben sie Leichen.
1) Lat. f o r t is s e d itio mächtiger Aufstand 2) Lat. multi viele; lat. v. arare pflügen, davon das p.p.a. arant pflügend; lat. v. mactare einen Gott durch ein Opfer ehren 3) Zu Artemis s. Glossar.
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Vz 1/2 [Ein Opferkult im Namen der Vernunft] Während der Schreckensherrschaft werden
Menschen zu Tausenden ohne Gerichtsverfahren, das diesen Namen verdient hätte, dem Fall-
beil übergeben. Die Getöteten werden der neuen Göttin, der Vernunft, zum Opfer gebracht.
Denn „Ochsen“ taugen zum "Pflügen". bleiben daher verschont - was der Vernunft einleuchtet.
Das Leben eines Menschen, der sich verdächtig macht, der neuen Göttin nicht zu huldigen,
ist weniger wert als das eines Ochsen - - ein Hohn auf die gerade erst zur Grundlage des
Staates proklamierten Menschenrechte, 2/8 (Kap.15). Der sarkastische Tonfall der Zeilen ist
nicht zu überhören.
Vz 3/4 [Artemis und Vulcan] Die zweite Vershälfte handelt von einer späteren Zeit. Artemis,
die keusche Göttin als Chiffre für die Jungfrau Maria, steht für den christlichen Glauben der
Katholiken. Zu diesem also kehrt man zurück, n a c h den Menschenopfern. Vulcanus war
der römische Gott, der vor dem Feuer schützen oder ein ausgebrochenes Feuer löschen helfen
sollte. Unter diesem Götternamen wird in 5/77 (Kap.15) Napoleon angesprochen. Denn er
>löscht das Feuer der Revolution<, bereitet dem Chaos ein Ende, indem er eine Diktatur
errichtet und die Kirche ab 1801 wieder in alte Rechte einsetzt. Aus der um Objektivität
bemühten Perspektive des Historikers ist diese Betrachtungsweise einseitig, da Napoleon
manche Errungenschaften der Revolution in dauerhafte Formen gießt und sie über große Teile
Europas verbreitet. Von der alten Monarchie herkommend, sieht N. in Napoleon einen
Usurpator (Kap.22), aber als Bändiger der Revolution imponiert er ihm.
Das Gesetz über Verdächtige (September 1793).
Emporgekommener versteht sich nicht auf sein Zepter
10/57 Le subleué ne cognoistra son sceptre,/ Les enfansus grands honnira:/ Oncques ne fut un plus ord cruel estre,/ Pour leurs espouses à mort noir bannira. 1568)
Der Emporgekommene wird sich nicht auf sein Zepter verstehen,/ die kleinen Kinder der Größten wird er zugrunderichten./ Nie gab es ein schändlicheres, grausameres Wesen./ Wegen ihrer Ehefrauen wird (der) finstere König (sie) tödlich verletzen.
1) Lat. v. sublevare emporheben, aufrichten. Mittelfrz. v. cognoistre verstehen (comprendre), wissen, können (savoir), se cognoistre a qch. sich auf etwas verstehen (être competent en, s‘ y connaitre) 2) Mittelfrz. v. honnir zugrunderichten (dévaster), entehren (déshonorer) 3) Mittelfrz. Adj. ord, ort gemein (sale), schändlich (ignoble) 4) Wer nicht akzeptieren mag, dass noir zugleich Anagramm von Roi König ist, s. Glossar, kann noir einfach als einen Finsteren auffassen.
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Vz 2 [Kinder der Größten zugrundegerichtet] Die Kinder des Königspaares werden durch die
Todesurteile gegen ihre Eltern (Kap.17) zu Vollwaisen. Den kleinen Dauphin übergibt man einer
Schusterfamilie zur Umerziehung; er ist wahrscheinlich als Kind gestorben.
Vz 4 [Ächtung wegen Ehefrauen] Unter dem Eindruck von Niederlagen gegen Österreich und
Großbritannien verschärft sich der Ton im Konvent, und am 17.9.1793 wird das Gesetz über
Verdächtige beschlossen. Es macht den Terror justiziabel. Verdächtig ist z.B., wer Gefangene
bemitleidet, wer etwas gegen die Schreckensherrschaft sagt, sogar, wer nicht aktiv seine revolu-
tionäre Gesinnung unter Beweis stellt. Schon der Umgang mit Personen, die vor Gericht als
Anhänger der alten Ordnung bekannt sind, ist Grund genug für eine Verhaftung. So können z.B.
Männer, deren Frauen zu eidverweigernden Priestern gehen, denunziert werden.
Vz 1/3 [Unfähig zu herrschen/ grausam] Der „Emporgekommene“ ist Robespierre, der im
Namen von Vernunft und Tugend der Blutjustiz immer neue Impulse gibt. Ohne Namen zu nennen,
deutet er immer wieder an, dass es belastendes Material auch über Mitglieder des Konvents
gebe. Ab Juli 1793 wird er de facto zum Diktator, der ein Klima ungeheurer Angst um sich ver-
breitet. Für N. usurpiert er die Stelle des Königs, ohne sich so zu nennen. Er benutzt sein „Zepter“,
um der Gesinnungsschnüffelei und somit totalitärer Herrschaft Vorschub zu leisten. Fouché bringt
es auf nächtlichen Exkursionen fertig, mit fiktiven Listen von Verdächtigen heimlich eine Mehrheit
der Konventsmitglieder davon zu überzeugen, dass sie demnächst ans Messer geliefert würden.
Das ist am Ende das Todesurteil für den Diktator, der den Bogen überspannt und seine Unfähigkeit
zum Herrschen nicht zuletzt damit bewiesen hat.
Fraktionen im Wohlfahrtsausschuss
01/81 D‘ humain troupeau neuf seront mis à part/ De iugement & conseil separés:/ Leur sort sera diuisé en depart/ Kappa, Thita Lambda mors, bannis, esgarés. (1555)
Von menschlicher Herde werden neun beiseite gestellt,/ nach Urteil und Schlussfolgerung sind sie getrennt./ Ihr Los wird ein getrenntes sein beim Abgang,/ Kappa, Theta, Lambda (sind) tot, verbannt, verirrt.
1) Mittelfrz. á part de getrennt von (séparé de), beiseite, abseits (á l‘ écart)
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Die Jakobiner kommen im Juni 1793 an die Macht und werden im August 1794 gestürzt.
Vz 1/4 [neun / Kappa, Theta, Lambda] Der Wohlfahrtsausschuss, gegründet am 6.4.1793, ist das
oberste Kontrollorgan des Nationalkonvents, und hat anfangs 25, dann neun und ab Juli 1793 zwölf
Mitglieder. Den Vorsitz hat bis Juni 1793 Danton, und für ihn kommen im Juli Robespierre und einige
von dessen Vertrauten. Die ersten neun Buchstaben des griechischen Alphabets sind Alpha, Beta,
Gamma, Delta, Epsilon, Zeta, Eta, Theta und Jota. Sie scheinen für die Zusammensetzung dieser
faktischen Regierung in der Zeit April bis Juni 1793 zu stehen. Die im Juli neu Hinzukommenden,
Robespierre und seine Vertrauten, wären demnach Kappa, Theta und Lambda.
Vz 1/2 [Herde/ uneinig] Ein Volk ohne Monarchen ist für N. als den Anhänger der alten Ordnung eine
„Herde“ ohne Hirt, die schon deshalb „getrennt“ sein müssen „nach Schlussfolgerung und Urteil“ über
den einzuschlagenden Weg. So sind auch die Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses in Anhänger
und Gegner Robespierres geschieden, der auf die Diktatur hinarbeitet.
Vz 3/4 [getrenntes Los] Robespierre wird dreizehn Monate nach dem Eintritt in die Regierung mit
einigen seiner Anhänger hingerichtet. Zuvor schon hat das gleiche Schicksal den populären Danton
ereilt. Einige Jakobiner, die der Regierung angehört haben, darunter Collot d‘ Herbois, werden nach
Cayenne verbannt. Andere können nach Amerika entkommen.