Suche 

        Kapitel 15  Die revolutionären Neuerungen seit 1789

Der christliche Glaube als Legitimation des sakral begründeten

Königtums, der „heiligen Monarchie“, 6/57 (Kap.19), wird ver-

worfen.  An seine Stelle treten die von der Philosophie der

Aufklärung konzipierten Menschenrechte, die Verfassungsrang

erhalten.  Das Prinzip der Gleichheit aller Menschen vor dem

Gesetz bedingt die Auflösung der in Stände gegliederten Feudal-

gesellschaft.  Um die Auflösung der alten Ordnung zu vervoll-

ständigen, wird das Land neu eingeteilt in Départments, die an

die Stelle weltlichen und kirchlichen Fürstentümer treten. 

Im Jahr 1793 wird der alte christliche Kalender abgeschafft,

Einführung (7c).  Der katholische Klerus, soweit er sich nicht

verweigert, wird dem neuen Staat unterstellt.  Klöster werden

aufgehoben, Orden verboten.  Priester, die den Eid auf die

Verfassung der Republik verweigern, erhalten Berufsverbot. 

All das hat N. gesehen, wie das Kapitel zeigt.

 

            Auszug aus dem historischen Inhaltsverzeichnis

            02/08   Menschenrechte statt heiliger Monarchie

            Exkurs (2) Zum Begriff des Gesetzes (loy) bei N.

            Exkurs (3) Zu den Menschenrechten

            02/10   Gleichheit: Die Ordnung der Feudalgesellschaft wird aufgehoben

            07/14   Das Land wird ganz neu eingeteilt (Dezember 1789)

            Exkurs (4) Zum Glauben an die Vernunft

            Sz 36   Abwendung vom politischen und christlichen Gehorsam

            01/44   Die Aufhebung der Klöster und das Verbot der Orden

            02/12   Berufsverbot für die eidverweigernden Priester

            Exkurs (5) Über Größe bei Nostradamus

            05/77   Unterstellung der Kirche unter den neuen Staat

            VH (35)  Man wird glauben, es gebe ein Neues Zeitalter

         01/42   Der Nationalkonvent beschließt einen neuen Kalender:

Bruch mit der christlichen Tradition (ab 1792)

 

        Menschenrechte statt heiliger Monarchie

 

02/08    Temples sacrés prime facon Romaine/

Reieteront les goffes fondements,/

Prenant leurs loys premieres  humaines,/

Chassant, non tout, des saints les cultements. (1555)

 

Die Tempel, geweiht nach ursprünglicher römischer Art,/

sie werden die tragenden Fundamente verwerfen,/ 

indem sie sich ihren ersten und menschlichen Gesetzen unterstellen/ 

und die Verehrung fast aller Heiligen abschaffen.

 

2)  Mittelfrz. Adj. goffe grob, plump (grossier), schwer, schwerfällig (lourd),

schlecht gewachsen (mal fait).  Hier als Attribut zu den fondements eingesetzt,

ergibt deren positive Bewertung durch N. die Übersetzung von goffes mit tragend.

3) Die alte Wendung prendre la loy, des loys bedeutet: sich dem Gesetz

unterstellen, sich den Gesetzen unterwerfen.  Zu N.s Gesetzesbegriff s. das

Glossar unter -> loy.

4) N.m. culte Gottesverehrung, Kult, Religionsausübung.  Die Endung –ment ist

angefügt, um den Reim zu erfüllen.

 

 

Vz 1 bis 4  Pfändler (1996 S. 331) will hier keine politischen Vorgänge, sondern eine Reform

nur innerhalb der katholischen Kirche erkennen.  Er verkennt, dass eine loy  bei N. das Prinzip

einer Rechtsordnung bedeutet und daher Gesetz immer  a u c h  im politischen Sinne ist.

 

       Exkurs (2) zum Begriff des Gesetzes (loy) bei N.

„Gesetz der Sonne“ nennt N. die christliche Religion im Allgemeinen und die

Gebote des Priesterstandes im Besonderen, 5/72 (Kap.6). 

Wenn „Glaube und Gesetz“ (foy & loy) als Paar erscheinen, 8/76 (Kap.8), ist das

Nebeneinander richtig verstanden, wenn darin das von Gottes Gnaden verliehene

Königtum und die darauf gegründete Rechtsordnung erkannt werden.  Die in einer

staatlichen Ordnung ausgeübte Herrschaft ist die sichtbare Erscheinungsform dieser

Ordnung, weshalb „Gesetz und Herrschaft“ (loy & regne) gemeinsam auftreten

können, 2/92 (Kap.30).

Fundament der staatlichen Ordnung kann der christliche Glaube sein;  es kann aber

auch der Islam, das „maurische Gesetz“, 3/95 (Kap.31), diese Aufgabe übernehmen. 

Wenn aus einer feudalen, religiös fundierten Ordnung mit Sultanat und Kalifat eine

säkulare Republik wird, ist das eine „Wandlung der Gesetze“, 1/40 (Kap.31).  Eine

Wandlung in ähnlichem Sinne vollzieht sich, wenn eine Republik die Menschenrechte

zur Grundlage eines Staates erklärt, der zuvor ein Königreich von Gottes Gnaden war,

2/8 (s.o.). 

Unter einer loy, einem Gesetz, versteht N. also ein religiöses oder philosophisches

Prinzip als Grundlage einer Rechtsordnung.

Vz 1/2  [römische Fundamente verworfen]  Man werde die „Fundamente“ der >römisch<, d.h.

katholisch geweihten Tempel „verwerfen“.  Vom Glauben als dem geistigen Fundament des

Königtums werde man nichts mehr wissen wollen, weil an dessen Stelle etwas anderes treten 

werde. Dass dies gemeint ist und nicht der Glaube als solcher, ergibt sich aus den in der dritten

Verszeile angeführten „Gesetzen“;  zum Gesetzesbegriff s. den Exkurs oben.  Die Philosophie

der Aufklärung entwickelt im 18. Jahrhundert die Idee der Menschenrechte, die allen Menschen

gleichermaßen zugesprochen werden.  Wie 1776 in den USA wird in Frankreich nach der Revo-

lution von 1789 die universelle Geltung der Menschenrechte zur Grundlage des neuen Staates

erklärt.  Sie sind es, die N. mit den „ersten und menschlichen Gesetzen“ meint.

Vz 3  [erste und menschliche Gesetze]  „Erste und menschliche“ Gesetze heißen sie, weil sie

allen Menschen kraft Geburt und von Geburt an zukommen, und sie damit älter sind, als jene

Rechte, die während des Lebens erst erworben werden.  Man kann heraushören, wie N. mit

größtem Befremden von diesen neuen Gesetzen spricht, weil ihm die neue Ordnung als ein

von allen guten Geistern verlassenes Chaos erscheint, 2/10 (s.u.).  Die Mehrzahl loys entspricht

im Übrigen dem sich schnell ausweitenden Katalog dieser Rechte, die am 13.9.1791 in Frank-

reich Verfassungsrang erhalten.

Vz 4  [Heiligenverehrung abgeschafft]  Die Heiligenverehrung in der katholischen Kirche wird nicht

von Staats wegen abgeschafft, verliert aber, wie der alte Gott, stark an Zuspruch.  Es gibt eigene

Feste der neuen Republik und die alten Heiligenfeste werden aus der Öffentlichkeit verdrängt,

zumal die Kirche, soweit sie sich nicht der neuen Republik unterstellt, illegal geworden ist.

      Exkurs (3) zu den Menschenrechten

Die Formel vom „Streben nach Glück“ (pursuit of happiness) in der Präambel der

amerikanischen Verfassung von 1787 verdeutlicht, dass in der neuen Ordnung der

Mensch und seine Wünsche an das Leben in den Mittelpunkt des Denkens rücken.

Es sind die Wünsche nach einem von Nöten wie Nötigungen möglichst freien Leben,

die als Menschenrechte zum Leitbild und Rechtsgrundsatz erhoben und in den Status

des objektiv Gültigen versetzt werden.  Ablesbar ist das z.B. an dem Satz „Die Würde

des Menschen ist unantastbar“ im Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes, dessen

Indikativ verschleiert, dass es sich hier um einen Wunsch handelt:  Die Menschenwürde

ist nicht und war nie unantastbar, doch man hegt den Wunsch, dass es so sein möge,

gründet den Staat auf die Proklamation eines Wunsches.

Erfüllen soll ihn der Staat selbst, eine Staatsgewalt, die in der neuen Ordnung nicht mehr

vom Monarchen, sondern von der Gesamtheit der Bürger ausgeht.  Die sich für vernunft-

geleitet haltenden Menschen trauen dem Kollektiv zu, Garant ihrer Würde und Freiheit zu

sein.  Dass Kollektive eigene Interessen entwickeln, sich selbst erhalten und entfalten wollen

und dazu neigen, ihren Mitgliedern die größten Zumutungen (z.B. Militärdienst) aufzuerlegen,

wird von den vernunftgläubigen Aufgeklärten damit begründet, dass Rechte und Freiheiten

auch Pflichten bedingen (Kant).  Durch die Umformulierung von Naturrechten in Ansprüche

gegenüber dem Kollektiv wird dem Kollektiv Verantwortung und damit Macht über die

Menschen verliehen.  Die Machtergreifung der Kollektive kommt als Gebot der Vernunft

daher.

 

        Gleichheit:  Die Ordnung der Feudalgesellschaft wird aufgehoben

 

02/10    Auant long temps le tout sera range/

Nous esperons vn siècle bien senestre:/

L‘ estat des masques  des seulz bien changé/

Peu trouueront qu`a son rang veuille estre.  (1555)

 

Bevor nach langer Zeit das Ganze in Ordnung gebracht sein wird,/

sehen wir einem ganz verkehrten Zeitalter entgegen./

Der Stand der Masken und der Alleinstehenden sehr verändert,/

wenige werden finden, dass sie ihrem Stand angehören wollen.

 

2) Mittelfrz. Adj. senestre links (gauche), ungünstig, nachteilig (défavorable),

unheimlich, elend (sinistre) > lat. sinister links verkehrt, unheilvoll

4) N.m. rang Reihe; (militärisches) Glied; Platz, Stelle; Rang, Stand

 

  

Vz 3  [Stand der Masken…]  Seit der Zeit Ludwigs XIII., also seit Beginn des siebzehnten Jahr-

hunderts, ist es bei den Adligen Sitte, sich das Gesicht zu pudern und Perücke zu tragen, eine

Angewohnheit, die dem Seher wie den heute Lebenden als eine Art von Maskierung erschienen

ist.  Der "Stand der Masken" ist demnach der Adel, und der „Stand der Alleinstehenden“ sind die

zölibatär lebenden katholischen Geistlichen.

Vz 3  [… sehr verändert]  Diese beiden Stände der alten Ordnung werden sich „sehr verändern“,

so sehr, dass „wenige … ihrem Stand angehören wollen“.  In der Tat verlieren damals Adlige und

Priester ihre angestammten Privilegien.  Es kommt zu Übergriffen, und nicht wenige Adlige gehen

ins Exil, 6/8 (Kap.16).

Vz 4/2  [wenige wollen ihrem Stand angehören/ verkehrtes Zeitalter]  Man zeigt nicht mehr das

>Gesicht<, d.h. man gibt sich äußerlich nicht mehr als Angehöriger der ehemaligen  Oberschicht

zu erkennen, 1/3 Vz 2 (Kap.16).  Die letzte Verszeile kann aber auch so gedeutet werden, dass

nach dem Umbruch Wenige den gesellschaftlichen Stand und Rang würden einnehmen wollen,

der ihnen einmal durch Geburt vorgegeben ist.  Die Stände als verbindliche Formen gibt es nicht

mehr, nur noch deren unverbindlich gewordene Reste.  Für mittelalterliches Denken ist das ein

ungeheurer, kaum vorstellbarer Vorgang, der die Ordnung der Welt aus den Angeln hebt und ein

„ganz verkehrtes Zeitalter“ einläutet.

Vz 1 [nach langer Zeit das Ganze in Ordnung gebracht]  N.s Andeutung, dass „nach langer Zeit

das Ganze in Ordnung gebracht“ werde, dürfte sich kaum auf die Restauration nach 1815 

beziehen, weil 25 Jahre in N.s Schau nicht wirklich lang sind (so auch Pfändler 1996 S. 133),

und weil diese Restauration nicht lange vorhielt.  Somit liegt die Erfüllung dieser Aussage noch

in der Zukunft.  Gemeint ist hier keine Restauration des Feudalsystems, sondern eine Wieder-

belebung des Königtums, s. Vorschau [XIV].

 

 

         Das Land wird ganz neu eingeteilt (Dezember 1789) 

 

07/14   Faux exposer viendra topographie,/

Seront les cruches des monumens ouuertes:/

Pulluler secte faincte philosophie,/

Pour blanches, noires & antiques vertes.  (1568)

 

Verkehrt wird man die Landkarte ausführen./

Die Krüge der Grabmonumente werden geöffnet sein.

Um sich greift (ein) Bekenntnis, erdichtete Philosophie./

Schwarzes (erklären sie) für weiß, und für uralt das Grüne.

 

3) Der typographische Unterschied zwischen Eingangs-s und dem f ist

im Urtext ein geringer, so dass hier möglicherweise saincte philosophie

heilige Philosophie im Urtext gestanden hat, in sarkastischem Ton.

3) Das Wort secte wird hier mit Bekenntnis wiedergegeben, weil im gleichen

Atemzug von Philosophie die Rede ist, es also um geistige Orientierung geht.

Siehe dazu auch das Glossar unter -> secte.

 

 

Vz 1  [Landkarte verkehrt]  Um den Umsturz des Feudalsystems zu zementieren, wird Frankreich

im Dezember 1789 in Departments eingeteilt, die an die Stelle der Provinzen mit weltlichen oder

kirchlichen Fürstentümern treten.  Die Präfekten der neuen Gebietskörperschaften werden von

Paris bestellt, am Zentralismus des alten Regimes hält man fest.  Für N. als Anhänger der alten

Ordnung ist die neue Einteilung schlicht „verkehrt“, „falsch“, „absurd“ (faux).

Vz 3  [Sekte greift um sich]  Das Bekenntnis mit starkem Zulauf ist die Partei der Revolution und

ab 1792 der Republik.  Ihre Anhänger bekennen sich zum Glauben an die Vernunft und die Prinzi-

pien der Revolution namens Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.   Mit der Kennzeichnung als

„Sekte“ macht N. deutlich, dass er den neuen Glauben für einen absonderlichen Irrglauben hält,

den er in Konkurrenz zum christlichen Glauben treten sieht.

Vz 4  [für uralt gilt das Grüne]  Die Menschenrechte, 2/8 (s.o.), deren universelle Gültigkeit und

staatliche Garantie eine Idee der Aufklärung ist, gelten für so alt wie der Mensch selbst. 

In Diderots Enzyklopädie wird die >natürliche Religion< des Menschen für älter als alle Religio-

nen erklärt, deren geschichtlichen Ursprung man angeben kann.  Menschenrechte und natürliche

Religion sind für N. >grüne<, d.h. unausgereifte Ideen.

Vz 4  [Schwarzes gilt für weiß]  Weisheiten von Gelehrten und Philosophen gelten als „weiß“, als

erhellend und lichtvoll.  In ähnlicher Distanz zum Geist des 18. Jahrhunderts wie Nostradamus

steht ein Zeitgenosse der französischen Revolution.

 

„Man hat, u n b e s e h e n, Achtung für gelehrte Leute; und ich konnte nicht

glauben: daß es möglich sei, so leichtsinnig und unverschämt zu sein, andern

Leuten, die doch auch Menschenverstand haben, solche Sachen zu bieten und als

Weisheit auszugeben; noch weniger: daß man einer bestehenden Religion so ins

Angesicht Hohn sprechen dürfe.  Wie gesagt, ich dachte, hinter dem Berge halte

etwas, das ich nicht absehen könne. -  

Aber es hält nichts hinter dem Berge, es hält alles vor dem Berge und vor Augen; 

und ist, worauf  ihrer, so viele und von allen Parteien, ausgehen mehr oder weniger,

nichts anders als ihre Vernunft in der Religion den Meister spielen zu lassen, und

alles was sie nicht begreifen und darin allein die Religion besteht, herauszutun, um

in den Zeiten der Vernunft auch ihres Orts nicht müßig zu sein, und ihre Ehre in

Sicherheit zu bringen.“

 

         Matthias Claudius, Über die neue Theologie, Sämtliche Werke, 8. Auflage 1996 S. 596

 

     Exkurs (4) Zum Glauben an die Vernunft

In der Zeit der französischen Revolution werden Ideen der sich aufgeklärt nennenden

Philosophie in die Praxis umgesetzt.  Man verwirft den christlichen Glauben als Grundlage

der gesellschaftlichen Ordnung.  Die neue Ordnung soll allein auf die menschliche Vernunft

gegründet werden, deren höchste Stufe im Denken der Philosophen erreicht sei. 

Die Philosophen der Aufklärung, Locke, Rousseau, Kant, Voltaire, Montesquieu usw.

stehen hoch im Kurs.  Die Fortschritte in der Erforschung der Natur haben den Boden

bereitet für die Heiligung der Vernunft.  Der Mathematiker Laplace nennt die Astronomie

>das schönste Denkmal des menschlichen Geistes<, so als ob die Wandelsterne nicht

schon seit Urzeiten ihre Bahn gezogen hätten und ihre Bewegung durch den sie be-

trachtenden >menschlichen Geist< erst geadelt werde  -  ein schwer erträgliches Selbstlob.

Skeptiker wie David Hume, der die Vernunft verdächtigt, eine Sklavin der Leidenschaften

zu sein, werden nicht gehört.  An die Stelle des Glaubens an Gott tritt nicht die Vernunft,

wie es immer heißt, weil an die Stelle eines Glaubens nur ein anderer Glaube treten kann. 

(Theoretisch kann es wohl auch völlige Glaubenslosigkeit geben, die aber bei den sich

aufgeklärt Nennenden durchweg nicht vorliegt.)  An die Stelle des Glaubens an Gott tritt

der Glaube an die Vernunft des Menschen. Der >Aufgeklärte< bewertet seinen Intellekt

höher als den Geist Gottes.  Die Vernunft werde im neuen Staat zu höchster Entfaltung

gelangen und sich durch ihn verwirklichen.  Auf dem Höhepunkt des revolutionären Elans

(und der Blutjustiz) wird im November 1793 von Robespierre ein >Kult der Vernunft<

und ein >Fest des höchsten Wesens< öffentlich zelebriert. 

Heute als verstiegen empfunden, sind solche Festlichkeiten doch Ausdruck einer Geistes-

haltung, die noch keineswegs abgedankt hat.  Der Glaube, durch Aufklärung, d.h. durch

den fortgesetzten kollektiven Gebrauch der Vernunft könne das Böse aus der Welt

gedrängt und letztlich ein Paradies auf Erden von Menschenhand geschaffen werden,

ist inzwischen nicht mehr naiv, sondern durch Erfahrungen in Frage gestellt.  Dennoch

hält er immer noch viele Herzen in seinem Bann.

  

         Abwendung vom politischen und christlichen Gehorsam

 

Sz 36     La grand rumeur qui sera par la France,/

Les impuissant voudront avoir puissance,/

Langue emmielle & vrays Cameleons,/

De boute-feux, allumeurs de chandelles,/

Pyes & geys, rapporteurs de nouvelles/

Don’t la morsure semblera Scorpions.

        

Die große Unruhe, die über Frankreich hingeht,/

die Machtlosen werden Macht haben wollen./

Honigsüße Sprache und wahre Chamäleons,/

in Brandstifter (sind verwandelt) Anzünder von Kerzen./

Elstern und Häher sind Überbringer von Neuigkeiten./

Ihr Biss lässt sie als Skorpione erscheinen.

 

3)4) Das interpolierte Prädikat ergibt sich wegen der Chamäleons.

Zur Sprache s.a. das Glossar unter -> langue.

 

 

In diesem Vers stellt N. die Abkehr vom politischen Gehorsam (Vz 2) sowie vom christlichen

Gehorsam (Vz 4) dar, demzufolge man auch der weltlichen Obrigkeit das Ihre geben soll,

Matthäus Kapitel 22, Verse 15 bis 22.  Die „Anzünder von Kerzen“ sind Diener, die nicht mehr

dienen, sondern zerstören wollen. Die Verheißungen einer neuen Zeit wollen mit „honigsüßer

Sprache“ die Menschen verführen.  Dahinter sieht N. allerlei Leidenschaften zum Vorschein

kommen, z.B. die Raublust von „Elstern und Hähern", sowie die Mordlust von „Skorpionen“.

 

 „Wie in allen Revolutionen gelangten die Halbwüchsigen und das weibliche

Element in den Vordergrund, in die vordere Reihe.  Nie war man philanthropischer,

ganz Frankreich lag im Taumel der Philosophie…  Kleine Leute, die zuvor nichts

waren, und nur zum geringeren Teil lesen konnten, waren nun mit Macht bekleidet. 

Alle schlechten Instinkte brachen aus: Unbotmäßigkeit, Rachsucht, Dünkel,

Gehässigkeit und nochmals Dünkel…“

 

                Otto Flake, Die französische Revolution, Zürich o.J., S. 164f.

 

 

         Aufhebung der Klöster und Verbot der Orden 

 

    01/44   En brief seront retour sacrifices,/

                    Contreuenants seront mis à martyre:/

                    Plus ne seront moines abbes ne nouices:/

                    Le miel sera beaucoup plus cher que cire.  (1555)

 

                    In Kürze werden Opferungen zurückgekehrt sein,/

                    Zuwiderhandelnde werden dem Martyrium ausgeliefert./

                    Es wird keine Mönche, Äbte, Novizen mehr geben./

                    Der Honig wird sehr viel teurer sein als Wachs.

 

 

Vz 1  [keine Mönche mehr]  Im Februar 1790 werden von der verfassunggebenden Versammlung

die Klöster aufgehoben und die Orden verboten.  Im Juli 1790 wird die sogenannte Zivilverfassung

des Klerus verabschiedet, welcher der König im Dezember zustimmt.  Die Priester sind aufgefor-

dert, den Eid auf den neuen Staat zu leisten.

Vz 2  [Martyrium]  Priester, die den Eid auf die Verfassung verweigern und sich damit offen als

Gegner der neuen Ordnung zu erkennen gaben, haben Berufsverbot.  Sie müssen während der

Terreur, der Schreckensherrschaft 1793/94 mit Denunziation und dem Ende auf der Guillotine

rechnen.  N. spricht auch explizit von "Menschentötung", 9/74 (Kap.18) und erkennt „Märtyrer“,

d.h. Blutzeugen in denen, die wegen der verweigerten Unterwerfung unter den heidnischen Staat

zu Tode kommen. 

Vz 1  [Opferungen]  Die Terreur gelangt im Herbst 1793 zu voller Entfaltung, nur wenige Monate

nach der Hinrichtung des Königs im Januar 1793.  Wenn N. davon spricht, dass „Opferungen

zurückgekehrt“ sein werden, vergleicht er die Zeit der französischen Revolution mit der Kaiserzeit

der römischen Antike, als Todesurteile öffentlich vollstreckt wurden und unter den Opfern Christen

waren, die sich weigerten, dem vergöttlichten Kaiser zu huldigen und somit aus religiösen Gründen

zu Tode kamen.

Vz 4  [Honig und Wachs]  In diesem Kontext meint die letzte Verszeile nicht den wegen sinkender

Nachfrage nach Kerzen fallenden Preis für Bienenwachs, wird aber gern so gedeutet.   Der >Honig<

bedeutet die Süße des Gotteswortes, die der des Honigs gleicht, Psalm 119 Vers 113.  Am alten

Glauben festzuhalten, werde die dem staatlichen Machtanspruch „Zuwiderhandelnden“ teuer zu

stehen kommen.  Mit dem >Wachs< ist eine biegsame Haltung gemeint, die sich dem neuen

Denken anpasst.  Mehr als sich anzupassen werde es es kosten, den alten >Honig< zu bewahren,

die Existenz und manchen gar das Leben.

 

 

         Berufsverbot für die eidverweigernden Priester

  

    02/12   Yeux clos, ouverts d‘ antique fantasie/

                    L’ habit des seulz seront mis à neant,/

                    Le grand monarque chastiera leur frénaisie./

                    Rauir des temples le tresor par deuant.  (1555)

 

                    Augen geschlossen, offen (nur) für antike Phantasien./

                    Die im Gewand der Alleinstehenden ins Nichts geschickt./

                    Der große Monarch wird ihre Verblendung geißeln./

                    Sie rauben der Tempel Schatz zuvor.

 

                    4) Zu Tempeln s. Glossar unter -> temple.

 

 

Vz 1  [antike Phantasie]  Die Angaben des Verses passen auf den September 1792, als Frank-

reich Republik wird und der „antiken Phantasie“ huldigt, mit einer demokratischen Verfassung

besser zu fahren als mit der Monarchie.  Die Staatsform einer demokratischen Republik hatte sich

in einigen antiken Stadtstaaten Griechenlands erstmals durchsetzen können.

Vz 2 /4  [Alleinstehende ins Nichts geschickt/ Tempelschatz geraubt]  Die Geistlichen, die sich

dem neuen Staat nicht unterordnen wollten, haben Berufsverbot, d.h. sie werden ihrer Existenz

beraubt.  Im April 1792 wird per Dekret das Tragen geistlicher Kleidung verboten.  Die Kirchen-

güter sind schon im November 1789 für eingezogen erklärt worden.

Vz 3  [großer Monarch geißelt die Verblendung]  Der „große Monarch“ ist Napoleon, der 1799

an die Macht kommt und dem Volk ein strengerer Zuchtmeister sein werde als das Ancien

Régime, 7/13 (Kap.22).  Er macht faktisch Schluss mit der Demokratie, arrangiert sich mit der

katholischen Kirche im Konkordat von 1801 und schafft den 1793 eingeführten neuen Kalender

1806 wieder ab.  Insofern geißelt er die „Verblendung“ der Revolutionäre, >löscht das Feuer<

der Revolution, 5/77 (s.u.).  Indem er in dem Konkordat den Katholizismus als „die Religion der

großen Mehrheit der französischen Bürger“ anerkennt, stellt er die katholische Kirche Frankreichs

als ordnungsstiftende Macht in den Dienst des von ihm beherrschten Staates. Es wird einge-

wandt (Bouvier, B., Nostradamus, 1996, S. 81), dass Napoleon von N. kritisch gesehen worden

sei, wozu die Bezeichnung als „großer Monarch“ nicht passe.  Aber „groß“ nennt N. jeden, den er

als mit besonderer Macht ausgestattet wahrnimmt, gleich was er von ihm hält.

 

        Exkurs (5) über >Größe< bei N.

Hitler heißt in 2/24 (Kap.39) und 2/82 (Kap.38) "der Große", weil N. erkannte,

dass er für einige Jahre zum Herrscher über Europa werden würde, 9/90 (Kap.32). 

Obwohl er in diesem Mann eine „Bestie“ erkennt, 1/12 (Kap.37), nennt N. ihn wegen

seiner Machtfülle und außerordentlichen Taten „groß“  -  offensichtlich  o h n e  damit

eine positive Wertung zu verbinden.

„Drei Große“ sind in 1/31 (Kap.38) die auch von den Zeitgenossen so bezeichneten

„großen Drei“, nämlich Churchill, Roosevelt und Stalin, die während des zweiten

Weltkriegs zusammenkommen, um sich über die gemeinsame Kriegführung und

Grundlinien der Nachkriegsordnung zu verständigen.  In Churchill erkennt N. eine

realistische Kämpfernatur, 5/4 (Kap.34), in Stalin den Herrscher des religionsfeindlichen

>Neuen Babylon<, d.h. des kommunistischen Machtbereichs, 2/38 (Kap.40).

Somit widerspiegelt >Größe< von Herrschern bei N. in der Regel nicht sein eigenes

Werturteil, sondern das maßgebliche Werturteil der jeweiligen Zeitgenossen,

welches die Betreffenden ja auch erst zu >Großen< macht.  Nur in wenigen Fällen

legt N.  s e i n e n  Standpunkt zugrunde, so wenn er die Polen ein „großes Volk“ nennt,

weil sie den Mut aufbringen, den Kommunismus niederzuringen, 2/28 (Kap.41).

 

 

         Unterstellung der französischen Kirche unter den neuen Staat

 

05/77   Tous les degrez d‘ honneur Ecclesiastique/

Seront changez en dial quirinal:/

En Martial quirinal flaminique,/

Puis vn Roy de France le rendre vulcanal. (1568)

                         

Alle Ränge der kirchlichen Würde/

werden verwandelt sein in den quirinalischen Dial,/

in den quirinalischen Martial, den priesterlichen./

Dann macht ein König von Frankreich sie vulkanalisch.

 

2) Lat. Adj. dialis zu Jupiter gehörig, Adj. quirinalis zum Quirinus gehörig.

Quirinus, Jupiter und Mars waren die ältesten Haupt- und Staatsgötter

im antiken Rom.  Später waren es Jupiter, Juno und Minerva.

3) Lat. Adj. Martialis zu Mars gehörig, dem Mars geweiht.  N.m. flamen

Priester einer einzelnen Gottheit.

4) Lat. Adj. Volcanius dem Volcanus (Gott des Feuers) geweiht.

 

 

Vz 1/2  [kirchliche Würde in Dial verwandelt]  „Dial“ ist ein anderer Ausdruck für Jupiter, den

obersten Gott im alten Rom.  Wie im antiken Rom, wo die Götter Staatsgötter waren, werde die

sich fügende Kirche in die Dienste eines heidnischen Staates treten  -  das meint N. mit der

Verwandlung aller kirchlichen Ränge in den „quirinalischen Dial“.  Die Revolutionäre verehren

nicht mehr den christlichen Gott, sondern die Vernunft und den neuen Staat, in dem sich angeblich

Vernunft und Tugend gegen den Obskurantismus des alten Glaubens durchsetzen werden.

Vz 1 bis 4  [Endungen auf –al]  Die Endungen auf –al sind erstens ein versteckter Hinweis auf

den neuen Kalender, dessen Frühlingsmonate auf –al enden;  sie heißen Germinal, Floreal und

Prairial.  Dass N. den neuen Kalender, gültig ab 1792, wahrgenommen hat, macht eine Stelle in

der Vorrede an Heinrich II., VH (35), deutlich.  Zweitens verdeutlicht die zerrbildartige Häufung

von Wörtern auf –al das Ressentiment des Sehers gegen die Revolution sowie auch dessen

Grund in der Zurückdrängung des christlichen Glaubens und der katholischen Kirche Frankreichs

durch den Kult der Vernunft und des in ihrem Namen errichteten neuen Staates.

Vz 4  [ein König von Frankreich macht sie vulkanalisch]  Im Pariser Konkordat vom Juli 1801 wird

die katholische Kirche wieder in alte Rechte eingesetzt, ohne ihre Privilegien vollständig wieder-

herzustellen.  Durch den Ersten Konsul Napoleon alias Feuergott Vulcanus wird der Staatskult

>verbrannt<, man kehrt zurück zum christlichen Glauben, 9/74 (Kap.18).  Der neue Kalender wird

1806 wieder abgeschafft.

 

 

        Der Nationalkonvent beschließt einen neuen Kalender:

   Bruch mit der christlichen Tradition (ab1792) 

 

01/42    Le dix Kalendes d‘ Apuril de faict Gotique/

Resuscité encore par gens malins:/

Le feu estainct, assemble diabolique/

Cherchant les or du (!) d’ Amant & Pselyn. (1555)

          

Der (Tag) zehn vor den Kalenden des April der barbarischen Sache/

(wird) nochmals wiederauferweckt durch üble Leute./

Das Feuer gelöscht, (eine) teuflische Versammlung/

auf der Suche nach dem schmutzigen Gold des Liebenden

und des Psellos.

 

1) Die Übersetzung „Der Tag zehn vor…“ beruht darauf, dass mit dem

Wort „Kalenden“ der altrömische Kalender und seine Zählweise aufgerufen ist.

Das Adj. gothique bedeutet mittelfrz. barbarisch.

4) les or du ist kein Französisch.  N.f. ordure Unrat, Dreck, Schweinerei,

les ordures sind Schweinereien, und das n.m. or Gold steckt auch drin.

 

 

Vz 1 [Tag zehn vor den Kalenden]  Die altrömischen „Kalenden“ waren der Name für den Monats-

ersten.  Die Tage wurden gezählt durch Rückrechnung von den Kalenden, Nonen und Iden.  Dann

kommt man hier auf den 22. März nahe der Tagundnachtgleiche im Frühling (21. März).

Vz 1 [gotische Sache]  Im „Jahr 1792“ werde „man glauben, dass es eine Erneuerung des Zeit-

alters“ gebe, heißt es in der Vorrede an Heinrich II., Abschnitt (34).  Tatsächlich wird am 24.11.1793

die Einführung eines neuen Kalenders beschlossen, rückwirkend ab dem 22.9.1792.  Das Jahr soll

also mit der Herbst-Tagundnachtgleiche beginnen.  Man will die christliche Zeitrechnung aufgeben

und einen rationalen, von allem >Aberglauben< befreiten Kalender einführen.  Für N. fällt man damit

zurück in heidnische Bräuche, welche seit Urzeiten die die Sommer- und Wintersonnenwenden wie

auch die Tag- und Nachtgleichen feiern und dem Kalender zugrundelegen.  Die Goten waren ein

germanisches Volk, dessen westlicher Teil sich als erstes >barbarisches Volk< in großer Zahl Zutritt

ins römische Reich verschaffte.  Mit dem neuen Kalender werde das Heidentum in die bis dahin

christlich geprägte Kultur Europas einbrechen.

Vz 3 [diabolische Versammlung/ Feuer gelöscht]  Die „diabolische Versammlung“ ist der französi-

sche Nationalkonvent, der den neuen Kalender beschließt.  Das „ausgelöschte Feuer“ ist ein Bild

für das Verlöschen der alten Zeit, gemessen im alten Kalender.  Für N. sind es „üble Leute“, die

mit der christlichen Tradition brechen.

Vz 4 [Schmutziges Gold des Liebenden und des Psellos]  Psellos, Philosoph und Staatsmann im

Byzanz des 11. Jahrhunderts, beschreibt in seiner Schrift De operatione daemonum Zeremonien,

die in gotteslästerlicher Absicht am Karfreitag vorgenommen werden, woraufhin Zügellosigkeit die

Teilnehmer erfasse.  Dahin, so N., werde das alles führen.