Kapitel 13 Großbritannien und Frankreich im 18. Jahrhundert
Im 18. Jahrhundert kann das französische Königtum sich erhalten
und noch großen Glanz entfalten. Da N. hauptsächlich für bemerkens-
wert hält, was er als Vorbote des Untergangs von Religion und
Königtum erkennt, sind es nur wenige Verse, die von der Zeit vor
1789 handeln. Das britische Regierungssystem mit seiner Kontrolle
der Gewalt des Souveräns durch die Parlamente, die weitgehende
religiöse Freiheit in Großbritannien sowie die bürgerlichen
Freiheiten der Meinungsäußerung und der Presse - all das werde
viele Franzosen faszinieren und Kritik an der alten Ordnung in
Frankreich hervorrufen.
Auszug aus dem historischen Inhaltsverzeichnis
03/15 „Kindheit unterwirft Frankreich“: Ludwig XV. wird 1715 mit fünf Jahren König
02/87 Wenn Georg I. auf Großbritanniens „goldenen Thron“ gelangt,
>wird die Jungfrau von Orleans zur Dienstmagd<
03/67 Vernunftgläubige Aufklärer („Philosophen“) setzen sich ab vom Christentum
05/40 Das britische Regierungssystem fasziniert aufgeklärte Franzosen
05/38 Ungehöriges und unzüchtiges Leben
„Kindheit unterwirft Frankreich“: Ludwig XV. wird 1715 mit fünf Jahren König
03/15 Cueur, vigueur, gloire le regne changera/ De tous points contre aiant son aduersaire./ Lors France enfance par mort subiugera./ Le grand regent sera lors plus contraire. (1555)
Beherztheit, Kraft, Ruhm werden das Reich verwandeln,/ in jeder Hinsicht ihm dicht auf den Fersen sein Widersacher./ Dann wird die Kindheit Frankreich durch Tod unterwerfen, der große Regent wird dann ein noch stärkerer Gegner sein.
2) Être contre entgegengesetzt sein, Gegner sein (être opposé)
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Vz 1 [Ruhm verwandelt das Reich] Unter Ludwig XIV. (König 1643-1715) erlebt das französische
Königtum seine Glanzzeit. Seinen „Ruhm“ zu mehren, ist ein Hauptmotiv Ludwigs.
„Allgemein herrscht heute Einigkeit darüber, daß sich der König von einem aus- geprägten Bedürfnis nach Ruhm und Reputation leiten ließ. Wie ein Leitmotiv ziehen sich die Begriffe >meine Würde, mein Ruhm, meine Größe, meine Reputation< … durch seine >Memoiren< und durch zahlreiche Dokumente.“
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P.C. Hartmann, Französische Könige u. Kaiser der Neuzeit, München 1994 S. 201f.
Es gelingt ihm, „das Reich“ in vielen kleinen Schritten nach Osten zu erweitern (Reunionspolitik).
Die spanischen Hauptlande gehen 1713 an ein Mitglied des französischen Königshauses,
4/2 (Kap.12). Die Stellung des Königs gegenüber dem Adel wird gestärkt. Lebensart und
Sprache am französischen Hof werden in Europa zum Vorbild und Maßstab.
Vz 2 [dicht auf den Fersen sein Widersacher] „Sein“, d.h. Frankreichs „Widersacher“ ist das
damals aufstrebende Großbritannien. Wie Frankreich baut es sein Kolonialreich in Nordamerika
aus. Seit 1689 ist es als stabile konstitutionelle Monarchie verfasst, 2/68, 4/96 (Kap.9).
Im Pfälzer Erbfolgekrieg 1689-97 und im Krieg um die spanische Erbfolge 1701-1713 (Kap.12)
ist Großbritannien Kriegsgegner Frankreichs und bekämpft das französische Streben nach
Hegemonie wo immer möglich.
Vz 3 [Kindheit unterwirft Frankreich durch Tod] Als Ludwig XIV. im September 1715 stirbt,
ist der thronfolgeberechtigte Urenkel fünfeinhalb Jahre alt. Ein >Kind unterwirft Frankreich<.
Ludwig XV. regiert zunächst nicht selbst; bis zur Volljährigkeit übernimmt ein Regentschaftsrat
mit dem Herzog Philippe von Orléans an der Spitze die Regierungsaufgaben.
Vz 4 [Regent als Frankreichs Gegner]
„Um nun die volle Regentschaft ohne Konflikte anerkannt zu bekommen, glaubte Orléans, dem Pariser Parlament als dem Hüter des Testaments entgegenkommen zu müssen, und er traf in dieser Situation eine folgenschwere Entscheidung; Um dieses für Paris und den größten Teil Kernfrankreichs zuständige höchste Gericht günstig zu stimmen, erkannte er dem Pariser Parlament eine politische Rolle zu, die es seit einem halben Jahrhundert verloren hatte. Dies sollte für die Monarchie in den folgenden 74 Jahren recht negative Folgen haben, da dieses Pariser Parlament und die Provinzparlamente, d.h. die obersten Gerichte des Königreichs … eine beständige Oppositions-, z.T. auch Obstruktionshaltung gegen die notwendigen Reformen ausübten und diese praktisch als Interessenvertreter der Privilegierten immer wieder blockierten.“
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P.C. Hartmann (Hsgr.), Französische Könige und Kaiser der Neuzeit, München 1994 S. 253
Die Politik des Regenten (1715 bis 1723) hat demnach durch den Reformstau, den sie bewirkt,
nicht unerheblich zu der Lage beigetragen, in welcher die Revolution 1789 möglich wird.
Wenn Georg I. auf Großbritanniens „goldenen Thron“ gelangt,
>wird die Jungfrau von Orléans zur Dienstmagd<
02/87 Apres viendra des extremes contrees/ Prince Germain sus le throsne doré:/ La seruitude & eaux rencontrees/ La dame serue, son temps plus n’ adore. (1555)
Danach wird kommen von entferntesten Gegenden/ (ein) germanischer Fürst auf den goldenen Thron./ Die Knechtschaft und Fluten zusammengetroffen,/ die Dame dient, ihre Zeit (wird) nicht mehr verehrt.
3) Zu den Fluten (eaux) s. Glossar unter -> deluge Überschwemmung.
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Vz 2 [Auf goldenen Thron..] In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts beginnt England, die Früchte
seiner überseeischen Entdeckungen zu ernten. Im Jahr 1694 wird die Bank von England gegründet,
seit 1707 heißen England und Schottland zusammen Großbritannien. Ein Bild für den gewachsenen
Reichtum des Landes gibt der „vergoldete Thron“.
Vz 1/2 […kommt germanischer Fürst] Mit Georg, dem Kurfürsten von Hannover, kommt 1714 ein
„germanischer Fürst“ von weither als George I. auf Großbritanniens Thron. Das Land ist zu einer
der führenden Mächte Europas geworden, während Frankreichs ruhmreiche Zeit unter Ludwig XIV.
(bis 1715) ihren Höhepunkt schon überschritten hat.
Vz 3/4 [Knechtschaft/ die Dame dient] Mit der >Dame< ist hier die Jungfrau von Orléans gemeint
als Sinnbild für die im Kampf gegen England geborene französische Nation sowie deren Freiheit
und Einheit. Wenn ein Deutscher auf den britischen Thron gelange, werde Frankreich erneut in die
Dienstbarkeit, gar Knechtschaft Englands geraten. Nach Eintreffen der Vorgänge ist klar, dass eine
politische Unterwerfung nicht gemeint ist.
Vz 3 [Knechtschaft und Fluten zusammengetroffen] Eine Überschwemmung mit >Wasser< kann
bei N. für Ideen stehen, die andere Ideen verdrängen wollen, 3/6 (Kap.10). Es geht hier um die
ungeheure Anziehungskraft, die das englische Regierungssystem von 1689 im achtzehnten Jahr-
hundert auf die Denker der Aufklärung ausübt.
„Voltaire … war von dem, was er sah, als er 1726 in England weilte, nachhaltig beeindruckt. .. Auf Voltaire wirkte die Freiheit der Engländer so belebend wie eine Eingebung. In England gab es eine freie Presse, ein für französische Verhältnisse unvorstellbares Maß an religiöser Toleranz und ein parlamentari- sches Regierungssystem. Die Folter, willkürliche Einkerkerung und ungesetz- liche Besteuerung waren nur noch Schrecken der Vergangenheit.“
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Meilensteine der Geschichte (Deutsche Fassung), London 1990, S. 426
Dass die Macht des Souveräns kontrolliert werden, dass es eine freie Presse und religiöse
Toleranz geben müsse - diese Ideen sind es, welche den Kontinent von England aus >überfluten<
und große Aufnahmebereitschaft vorfinden. Fremde Ideen, die das Land am Ende zur Revolution
treiben, werden es geistig unterwerfen, so deutet N. das Geschehen. Monarchie und die von
diesem beschützte Freiheit gehören für ihn zusammen, VH (21).
Vernunftgläubige Aufklärer („Philosophen“)
setzen sich ab vom Christentum
03/67 Vne nouuele secte de Philosophes/ Mesprisant mort, or, honneurs & richesses,/ Des monts Germains ne seront limitrophes:/ A les ensuiure auront apui & presses. (1555)
Eine neue Sekte von Philosophen/ verachtet Ehrungen (für) und Reichtümer (an) Tod und Gold./ Den germanischen Bergen werden sie nicht benachbart sein./ Bei denen, die (ihnen) folgen, werden sie Unterstützung und Pressen haben.
1) Zum Begriff der Sekte bei N. s. Glossar unter -> secte.. 2) Diese Verknüpfung der vier Begriffe ist nicht zwingend, aber auch nicht willkürlich. Sie leitet sich daraus ab, dass >Gold< bei N. die von ihm hoch geschätzten Lehren der christlichen Religion bedeutet, -> or im Glossar. 3) Zum Bedeutung der Berge bei N. s. Glossar unter -> mont. 4) Unklar, warum N. nicht einfach „Aux ensuivants…“ schreibt; vielleicht steht das „a“ hier in seiner lat. Bedeutung: „V o n den Anhängern…“
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Für diesen Vers liegen bisher nur Fehldeutungen vor, eine davon in C.B. Carius, Nostradamus
Band 2 (2002) S. 163. Ein Hauptaugenmerk richtet N. auf den Verlust der Religion, nicht auf die
Apostasie Einzelner, sondern auf die Entchristlichung ganzer Völker. Mit >Gold< meint er die
von ihm hoch geschätzten Lehren der christlichen Religion, s. Glossar unter or Gold. Auch die
„Ehrungen und Reichtümer" stehen daher für die Wertschätzung g e i s t i g e r Errungen-
schaften. (Die kommunistische Internationale wollte das Eigentum an den Produktivkräften,
mithin an m a t e r i e l l e n Werten anders ordnen als bis dahin üblich.)
Vz 2 [Tod und Gold/ Ehrungen und Reichtümer…] Die Sonne steht bei N. für den in Christus
offenbar gewordenen Gott. Als Entsprechung der Sonne auf Erden galt das >Gold<, das somit
die Lehren Christi bedeutet. In diesem Kontext ist der „Tod“ nicht irgendein Tod, sondern die
Selbstopferung Christi zur Versöhnung der Gottheit. Die „Ehrungen“ sind die Achtung der Gebote
Christi und der Glaube an die Wirkung seiner Tat; die „Reichtümer“ meinen die liturgische Teilhabe
der Gläubigen an der durch Christus erwirkten Versöhnung, insbesondere durch Kommunion bzw.
Abendmahl.
Vz 1/2 [… verachtet von Philosophen] Die Schriftsteller der Aufklärung fordern, dass die
Menschen endlich anfangen müssten, selbst zu denken, statt das von den Autoritäten Vorge-
gebene einfach für wahr zu halten und zu glauben. Von da scheint es nicht weit zu sein bis zu
der Idee, dass n u r das, was der Vernunft ohne Weiteres, d.h. ohne Glauben, einleuchte,
als gut und wahr gelten dürfe. Für den Einbruch des Übernatürlichen (des Geistes) ins Diesseits,
z.B. durch die Selbst-Offenbarung eines Gottessohnes, gibt es dann keinen Platz mehr.
„Sie nannten sich >philosophes<, waren aber keine einsamen Denker, die schwer verständliche Systeme entwarfen; statt dessen schrieben sie elegante Essays für das große Publikum, Satiren, geistreiche Romane und witzige Dialoge. Sie waren philosopierende Schriftsteller und hießen Diderot, d‘ Alembert, d‘ Holbach, Hélvetius und – als Großmeister von ihnen allen .. Francois Arouet, der sich Voltaire nannte… Sie kümmerten sich um die unsinnigen Taten der Regierungen und die Mißstände der Gesellschaft. Sie bereiteten der Vernunft einen triumphalen Empfang und inthronisierten sie als oberste Instanz aller Einrichtungen der Gesellschaft. Sie organisierten den Kampf gegen Mythen, Dogmen und Aberglauben. Als Repräsentantin des Obskurantismus (des Dunkelmänner- tums) erschien die Kirche und als besonders absurd das Christentum.“
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D. Schwanitz, Die Geschichte Europas, TB-Ausgabe (München 2003), S. 159
Vz 3 […>den deutschen Bergen nicht benachbart<] >Berge< stehen bei N. für Reiche mit Königen
oder Fürsten an der Spitze, s. Glossar. Im Kontext sind die >deutschen Berge< die protestantisch
gewordenen und im Reichsgesetz von 1555 bestätigten Fürstentümer des alten Reichs. Wenn die
Philosophen >den deutschen Bergen n i c h t benachbart< sind, bedeutet das eine g e i s t i g e
Distanz - nämlich dass es ihnen n i c h t um die Reform des Glaubens geht. Tatsächlich wollen
die Aufklärer nicht die Religion reformieren, sondern betrachten gleichsam das christliche
Ideengebäude von außen; sein Fundament gilt der „bloßen Vernunft“ (Kant) als nicht zugänglich.
Vz 1 [>Sekte< …] Wohl gibt es bei den Aufklärern und Aufgeklärten auch Sekten, z.B. Freimaurer,
Rosenkreuzer und Illuminaten. N. meint aber nicht diese Sektierer, sondern die Aufklärer selbst,
die im Sprachgebrauch und in ihrem Selbstverständnis keine Sekte sind, schon weil es keine
formelle Mitgliedschaft gibt. Doch in der Wahrnehmung und Beurteilung des Sehers verleiht
ihnen die prinzipielle Gegnerschaft gegen die alte Kirche und den alten Glauben ein gemeinsames
Gepräge. Sie huldigen stattdessen dem Glauben an eine „Vernunftreligion“ (Kant), dem Glauben
an die Vernunft des Menschen, deren fortgesetzter gemeinsamer Gebrauch letztlich zur Herrschaft
des Guten in der Welt führen könne (Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft).
Die Menschen könnten, wenn sie nur konsequent von der Vernunft Gebrauch machten und dem
Recht Geltung verschafften, auch ohne Gottes Hilfe einen guten Lebenswandel führen und den
ethisch-moralischen Fortschritt der Gesellschaft erreichen. Die Religion habe ihre Berechtigung
nur insoweit, als sie den Gläubigen zu einem moralischen Lebenswandel verhelfe.
Vz 4 […wird unterstützt/ „Pressen“] Im 18. Jahrhundert gibt es bei Adligen, Beamten und bürger-
lichen Schichten in den Städten ein zunehmendes Interesse an Lektüre, die über die Bibel und
religiöse Erbauung hinausgeht. Es bilden sich überall Lesegesellschaften und Salons, die sich
der gemeinsamen Lektüre und Diskussion allgemeinbildender, wissenschaftlicher oder pädago-
gischer Schriften widmen. Das Zeitungswesen und der Buchdruck nehmen gewaltigen Aufschwung.
Diderots Enzyklopädie findet genügend Abonnenten in Europa, um zwanzig Jahre lang erscheinen
zu können. "Pressen" bedeuten im Kontext die Zeitschriften, die die aufgeklärten Aufklärer zur
Verbreitung ihrer Ideen erfolgreich einsetzen. Heute nur im Singular „Presse“ gebraucht, bedeuten
die “Pressen“ die Druckerpressen wie auch die mit ihnen hergestellten Schriften - ein zur Zeit des
Sehers noch unbekanntes Phänomen, das aber charakteristisch für das 18. Jahrhundert ist, in dem
sie als Massenerscheinung neu sind.
Das britische Regierungssystem fasziniert aufgeklärte Franzosen
05/40 Le sang Royal sera si tresmeslé,/ Contraint seront Gaulois de l’ Hesperie:/ On attendra que terme soit coulé,/ Et que memoire de la voix soit perie. (1568)
Das königliche Blut wird sehr stark vermischt sein,/ genötigt werden (die) Gallier von den Hesperiden* her./ Man wird (darauf) warten, bis (die) Frist abgelaufen/ und die Erinnerung an die Stimme erloschen ist.
1) Zu Blut als Metapher s. das Glossar unter -> sang. 2) Die Hesperiden wohnten >im Westen<, s. Hesperie 4) Das n.f. voix Stimme konnte auch Zustimmung (consentement) bedeuten, z.B. Il a la voix et approbation du peuple er hat die Zustimmung und Billigung des Volkes.
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Vz 1 [>Königliches Blut< stark vermischt] Das >Königliche Blut< ist die Idee des Königtums als
des von Gott eingesetzten Souveräns, dem der Christ den Gehorsam in weltlichen Dingen schuldet.
Wenn dieses >Blut vermischt< wird, kommen Ideen anderer Herkunft und anderer Zielrichtung hinzu.
Die Idee, dass das Volk selbst der Souverän sei, daher selbst herrschen und nicht mehr dienen
müsse (Idee der Demokratie), kann sich in Großbritannien seit 1689 Gehör verschaffen und in
Frankreich seit 1789 durchsetzen.
Vz 2 [Gallier genötigt von den Hesperiden] Den Ausgangspunkt der Entwicklung sieht N. bei
den >Hesperiden<, nämlich im Westen, d.h. in Großbritannien. Die Ideen einer Teilhabe führender
Schichten des Volks an der Herrschaft und der Bindung des Souveräns an eine Konstitution, d.h.
an eine Verfassung, werde große Anziehungskraft entfalten. Gezwungen zur Übernahme dieser
Ideen werden die Franzosen allerdings nicht. Mit der geistigen Knechtschaft seines Landes,
2/87 (s.o.), meint N. die >Herrschaft fremder Ideen<. Die Heimatliebe des Sehers lässt das Üble,
die unchristlichen Ideen, nicht auf Frankreichs eigenem Boden wachsen, sondern von außen in
das Land eindringen.
Vz 3/4 [Frist abgelaufen/ Erinnerung erloschen] Der Seher deutet wie in 2/10 (Kap.15) an, dass
es auch wieder anders kommen werde. Über die Zeit bis dahin ist nur zu erfahren, dass sie währt,
bis das Königtum >vergessen< ist, d.h. gar nicht mehr ernsthaft als Alternative zur Demokratie in
Betracht kommt, weil diese in ähnlicher Weise als einzig akzeptable Ordnung des Staates gilt
wie zu Zeiten des Sehers das Königtum. Damit ist in Frankreich die Zeit nach 1870 gemeint,
in Deutschland die Zeit nach 1945.
Ungehöriges und unzüchtiges Leben
05/38 Ce grand monarque qu‘ au mort succedera,/ Donnera vie illicite & lubrique,/ Par nonchalance à tous concedera,/ Qu’ à la parfin faudra la loy Salique. (1568)
Dieser große Monarch, der an die Stelle des Toten rückt,/ wird sich hingeben einem ungehörigen und unzüchtigen Leben./ Aus Unbekümmertheit wird er allen Zugeständnisse machen,/ bis am Ende das salische Gesetz versagt.
4) Mittelfrz. v. faillir fehlen (faire defaut), Mangel leiden (manquer), im Unrecht sein (être en defaut), misslingen, versagen (rater).
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Vz 1 [Großer Monarch…] Größe reflektiert bei N. die zeitgenössische Wertung, s. Exkurs (5) .
König Ludwig XV. von Frankreich übernimmt 1723 die Regierung und ist bis 1774 unbestrittener
König, für die Zeitgenossen ein großer, d.h. mächtiger Mann.
Vz 2 [… führt unzüchtiges Leben] Ludwig XV. hat die Mätressenwirtschaft nicht erfunden, die
dennoch mit seinem Namen in charakteristischer Weise verbunden ist als Folge des politischen
Einflusses, den dieser König seinen Favoritinnen einräumt.
Vz 3 [Nachlässigkeit/ macht allen Zugeständnisse] Die „Unbekümmertheit“ Ludwigs zeigt sich
im politischen Einfluss seiner Mätressen, aber auch darin, dass im Jahrhundert der Aufklärung
und damit seiner Regierung (1723-74) die nötigen Reformen, besonders bei der Besteuerung,
versäumt werden.
Vz 4 [Salisches Gesetz versagt… ] Das seit 1328 in Frankreich geltende salische Gesetz stellt
klar, dass für die Thronfolge nur die männliche Linie in Frage kommt. Die Söhne von Töchtern
französischer Könige sind damit ausgeschlossen. Wenn dieses Gesetz „Mangel leidet“, „versagt“
oder „fällt“, kann das bedeuten, dass es aufgehoben wird, oder dass eine Dynastie aus Mangel
an Nachkommen ausstirbt.
Aus der Ehe Ludwigs XV. entsprießen acht Töchter und zwei Söhne, von denen der eine früh
stirbt; der überlebende Sohn wird Vater des späteren Königs Ludwig XVI. Dieser kommt samt
Sohn in der Revolution ums Leben. Seine ihn beerbenden Brüder bleiben kinderlos, oder die
Kinder kommen vorzeitig um. Die dann einsetzende Linie Orleans-Bourbon wird 1848 vom
Thron vertrieben.
Vz 4 [… wegen der Fehler Ludwigs XV.] Der Bankrott des salischen Gesetzes steht hier als
Teil für das Ganze (pars pro toto), bedeutet also nicht nur die Aufhebung des Thronfolgegesetzes
von 1328, sondern das Ende des Königtums schlechthin, durch das auch alle Gesetze, die den
Erbgang regeln, gegenstandslos werden. Die eigentliche Aussage des Verses ist demnach,
dass die Fehler des Königs Ludwig XV. zum Ende des Königtums wesentlich beigetragen haben.
Das Ende des Königtums auf die Unbekümmertheit, sprich: auf versäumte Reformen und auf die
Untreue Ludwigs XV. zurückzuführen, ist nicht so abwegig wie es klingen mag. Die Willens-
schwäche dieses Königs und die Macht der Pompadour verderben die politische Moral, schaden
dem Ansehen des Königtums und helfen mit, den Boden für die Revolution zu bereiten. Dass
Ludwig XV. so viele Töchter und kaum Söhne hat, ist im Vers sicherlich auch gemeint. Das wird
man ihm freilich nicht anlasten können, zumal er mit dem Fremdgehen erst angefangen hat, als
die zehn Kinder schon geboren sind und seine Gattin auf ärztlichen Rat hin sich ihm entzieht.