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          Kapitel 10  Ludwig XIII. und Ludwig XIV. von Frankreich (1610-1715) 

Auszug aus dem historischen Inhaltsverzeichnis 

05/89    Böhmisch-Pfälzischer Krieg 1618-23

09/18    Ludwig XIII. schlägt Rebellion nieder, belagert Nancy

08/04    Richelieu in Monaco, das sich mit Frankreich verbündet

08/68    Tod Richelieus und Ludwigs XIII.

06/47    Frankreich und Spanien >geben verborgene Rivalität auf<

03/06    Bedrückung der Hugenotten (1685)

02/64    Aufhebung des Edikts von Nantes.  Emigration vieler

Hugenotten, die Schweiz überfordert

 

        Böhmisch-pfälzischer Krieg 1618-23

 

05/89    Dedans Hongrie par Boheme, Nauarre,/

Et par banniere fainctes seditions:/

Par fleurs de lys pays portant la barre,/

Contre Orleans fera esmotions. (1568)

 

In Ungarn (gibt es) wegen Böhmen, Navarra/

und wegen des Banners heilige Aufstände./

Durch Lilienblumen (wird) das den Balken führende Land/

gegen Orléans aufgebracht sein.

 

1) Bohême Böhmen.  La bohème in der Bedeutung eines

unbürgerlichen Lebensstils gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert.

2) Vorgetäuschte Aufstände sind eher abstrus.  Daher dürfte der

Urtext sainctes seditions haben, die z.B. in der Édition Chevillot

1611 auch zu finden sind.

4) Mittelfrz. n.f. emotion Erhebung (soulèvement), Aufruhr (emeute)

 

 

Vz 3/4 [Lilienblumen/ Orléans]  Die Lilien haben sich seit dem vierzehnten Jahrhundert als Wappen-

zeichen der französischen Könige durchgesetzt.  Das Herzogtum Orléans gehört seit der Zeit Hugo

Capets im zehnten Jahrhundert zu den Krondomänen und steht wie die Lilien für Frankreich.

Vz 1/3 [Land, das den Balken führt/ Ungarn]  Das Wappenschild des Erzherzogtums Österreich,

des Kernlandes der Habsburger, hat einen weißen Balken auf rotem Grund.  Das Königreich

Ungarn ist wie Böhmen seit 1526 Teil des habsburgischen Besitzes und steht hier für Österreich-

Ungarn im Ganzen. 

Vz 2/4 [heilige Aufstände/ Erhebungen]  >In Ungarn<, d.h. auf habsburgischem Gebiet, werde es

zu religiös motivierten Aufständen kommen.  Seit 1617 König von Böhmen, wird der 1619 zum

Kaiser gewählte Habsburger Ferdinand II. von den mehrheitlich protestantischen böhmischen

Ständen nicht als Landesoberhaupt anerkannt.  Sie stellen Friedrich von der Pfalz zum Gegen-

könig auf.  Daraufhin bricht der böhmisch-pfälzische Krieg aus (1618-23).

 

 

        Ludwig XIII. schlägt Rebellion nieder, belagert Nancy 

 

09/18    Le lys Dauffois portera dans Nansi/

Iusques en Flandres electeur de l‘ empire,/

Neufue obturee au grand Montmorency/

Hors lieux prouez deliure à clere peyne. (1568)

 

Die delphinische Lilie wird er nach Nancy bringen,/

bis nach Flandern (wird man bringen) einen Kurfürsten des Reichs./

Erneuter Verschluss für den großen Montmorency,/

abseits bewährter Orte (wird er) ausgeliefert klarer Strafe.

 

1) Adj. dauphinois hier verkürzt zu Dauffois

3) Es fehlt das Subjekt zu obturee;  das n.f. prison Haft zu interpolieren,

ergibt im Kontext einen Sinn.

 

 

         Vz 1 [Delphinische Lilie …]   Die Lilie haben die Könige von Frankreich seit dem 13. Jahrhundert

         im Wappen.  Den Titel Dauphin Delphin trägt der erste Anwärter auf den Thron unter den Söhnen

         der Könige von Frankreich.  Bis zur Geburt seines ersten Sohnes am 5.9.1638 behält Ludwig XIII.

         den Titel Dauphin, der dann auf den Sohn übergeht.  Das Wort Dauffois delphinisch bedeutet hier

         im Kontext dasselbe wie >noch kinderlos<. 

         Vz 1 [… wird er nach Nancy bringen]  Im August 1633 belagert eine französische Armee die Stadt

         Nancy in Lothringen, das damals mit dem Kaiser verbündet ist.  Die Stadt wird wenig später

         genommen, der Herzog von Lothringen muss dem König von Frankreich den Treueid leisten.  

         Ludwig XIII. >bringt die Lilie nach Nancy<, d.h. er dehnt seinen Einfluss bis nach Lothringen aus.

         Vz 2 [Nach Flandern bringt man Kurfürsten]  Wegen seiner frankreichfreundlichen Politik setzen

         im Jahr 1635 Truppen aus den spanischen Niederlanden auf Befehl des Kaisers Ferdinand II. den

         Kurfürsten von Trier namens Philipp Christoph von Sötern gefangen.  Er wird nach Brüssel in die

         spanischen Niederlande gebracht und bleibt insgesamt zehn Jahre lang Gefangener des Kaisers,

         festgehalten an verschiedenen Orten.

         Vz 3/4 [Gefängnis und Strafe für Montmorency]  Henry II. de Montmorency, ein Enkel des großen

         Feldherrn, den N. gekannt haben dürfte, seit 1614 Gouverneur des Languedoc, hat 1632 an einer

         offenen Rebellion gegen den König auf dem Boden seiner Provinz teilgenommen.  Am 1.9.1632

         unterliegt er den Truppen des Königs, wird gefangen genommen und vom Parlament in Toulouse

         zum Tode verurteilt.  Die für seine Begnadigung eintreten, können nur erreichen, dass die Strafe

         nicht wie üblich auf dem Marktplatz, sondern auf dem Hof des Gefängnisses vollstreckt wird.

 

            Richelieu in Monaco, das sich mit Frankreich verbündet

 

08/04    Dedans Monech le coq sera receu,/

Le Cardinal de France apparoistre,/

Par Logarion Romain sera deceu,/

Foiblesse a l’ Aigle, & force au Coq naistra. (1568)

 

In Monaco wird der Hahn aufgenommen,/

der Kardinal von Frankreich wird erscheinen,/

Durch >Wort vom König< wird (der) Römer getäuscht./

Schwäche wird dem Adler, und Stärke dem Hahn erwachsen.

 

1) Lat. Herculis Monoeci portus heißt heute Monaco.

3) Logarion kann als Log(os) a Roi(n) aufgefasst werden,

das bedeutet: „Wort vom König“

 

 

Vz 1 [In Monaco Hahn aufgenommen]  Die Grimaldis verbünden sich 1641 mit Frankreich,

nachdemdie französische Flotte Ende der 1630er Jahre erstmals Erfolge im Mittelmeer gegen

die Spanier hat erringen können.

Vz 2 /3 [Kardinal von Frankreich/ Wort vom König/ Römer getäuscht]  Der „Kardinal von Frank-

reich“ ist Richelieu, damals Minister und mächtigster Mann unter König Ludwig XIII.  Er gestaltet

die Außenpolitik des Landes und hat das volle Vertrauen des Königs.  Sein Wort gilt Diplomaten

wie das des Königs, er selbst  i s t   das >Wort vom König<.  Er verfolgt ausschließlich das

Interesse Frankreichs, seine Loyalität gilt allein seinem König.  Der „Römer“  - das ist der Papst - 

hat sich getäuscht, wenn er von seinem Kardinal irgendwelche Rücksichten auf Rom erhofft.

Vz 4 [Adler schwach, Hahn stark]  Der „Adler“ ist das Signum des Kaiserreichs;  dieses liegt

darnieder durch den anhaltenden Krieg in deutschen Landen.  Vorbereitet durch Richelieus

Politik, steht Frankreichs ruhmvolle Zeit unter Ludwig XIV. bevor.

 

 

        Tod Richelieus und Ludwigs XIII.

 

08/68    Vieux Cardinal par le ieune deceu,/

Hors de sa charge se verra desarme,/

Arles ne monstres, double soit aperceu,/

Et Liqueduct & le Prince embausme.  (1568)

 

Alter Kardinal durch den Jungen getäuscht,/

von seinem Amt entfernt, wird er sich entwaffnet sehen./

Arles, du sollst nicht zeigen, (dass ein) Duplikat aufgekommen ist,/

und Flüssiggeführter und der Fürst einbalsamiert.

 

4) Mittelalt. n.f. liquentia ruhiges Wasser;  lat. Adj. liquidus flüssig

und p.p.p. ductus geführt

 

 

         Vz 1 [Alter Kardinal/ Junger]  Der „alte Kardinal“ ist Richelieu, unter Ludwig XIII. mächtigster Mann

         in Frankeich.  Der „Junge“ ist Henri d‘ Effiat, Marquis de Cinqmars.  Im Jahr 1642 ist Richelieu 57,

         Cinqmars 22 Jahre alt.  Cinqmars hat am Hof Karriere gemacht, von Richelieu protegiert, der ihn

         daher als seine Kreatur ansieht.

         Vz 1/2 [Kardinal getäuscht/ entwaffnet]  Der Ehrgeiz verleitet den Emporkömmling und Favoriten

         des Königs, den Kardinal verdrängen zu wollen.  Der verliert zwar nicht seine Ämter, aber vorüber-

         gehend an Einfluss beim König.  Im März 1642 nimmt Cinqmars teil an einer Verschwörung, die

         mit Spanien eine geheimen Vertrag schließt. 

         Vz 3/4 [Arles du sollst nicht zeigen …/ Flüssiggeführter und Fürst einbalsamiert]  Ein Duplikat des

         Dokuments fällt dem Kardinal in die Hände, als der sich in Arles aufhält.  Er zögert nicht, die unver-

         hoffte >Munition< zu verwenden und schickt es dem König;  daraufhin wird Cinqmars wegen Hoch-

         verrats hingerichtet.

         Richelieu reist wegen seiner Gicht in einer riesigen Sänfte und gern auf Schiffen, also >flüssig<

         im Sinne von erschütterungsfrei.  Er stirbt im Dezember 1642, im Mai 1643 folgt ihm Ludwig XIII.

         Das nahe eigene Ende des Kardinals ist wohl der Grund, weshalb N. es nicht für ratsam hält, sich

         noch die Mitschuld am Tod eines jungen Mannes aufzuladen.

 

        Frankreich und Spanien >geben verborgene Rivalität auf<

 

06/47   Entre deux monts les deux grans assemblés/

Delaisseront leur simulté secrette./

Brucelle & Dolle par Langres acablés,/

Pour à Malignes executer leur peste.

 

Zwischen zwei Bergen (werden) die beiden Großen versammelt

(sein)/  und ablassen von ihrer verborgenen Rivalität./

Brüssel und Dôle (werden) durch Langres niedergeworfen,/

um in Mecheln ihre Seuche zu vollstrecken.

 

1) Zu Bergen s. Glossar unter -> mont.

2) Lat. n.f. simultas Eifersucht, Feindschaft

3) Mittelfrz. v. accabler niederwerfen (abattre), überwältigen (faire succomber)

4) Zur Seuche s. Glossar unter -> peste.

 

 

Vz 1 [Zwei Große zwischen zwei Bergen versammelt …]  So wie Moses das Gesetz Gottes vom

Sinai brachte, so geht von den >Berggipfeln<, d.h. den Königen, das weltliche Gesetz aus. 

>Berge< stehen bei N. sinnbildlich für Königreiche.  Im November 1659 treffen sich in den Pyre-

näen an der Grenze ihrer Reiche  - >zwischen zwei Bergen< -  Philipp IV. von Spanien und der

neunzehnjährige Ludwig XIV. von Frankreich.  Auf der Fasaneninsel im Grenzfluss Bidasoa,

auf neutralem Terrain also, wird verhandelt. 

Vz 2  [… geben verborgene Rivalität auf]  1648 ist kein Frieden zwischen Frankreich und

Spanien zustande kommen, so dass der seit 1635 anhaltende Kriegszustand weiter gilt. 

Es gibt keine offenen Feldschlachten, aber Frankreich unterstützt Aufstände in Katalonien,

und Spanien die Fronde, die Bewegung des französischen Hochadels gegen die Krone. 

 

„Die Verflechtung der Dinge war es nun einmal, daß die beiden großen

Monarchien, indem eine jede für sich selbst unbedingten Gehorsam forderte,

denselben doch im Gebiete der anderen zu zerstören trachtete.  Frankreich hatte

die Empörung in den Nebenländern der spanischen Krone angeregt oder

befördert;  dagegen Spanien Einfluß auf den Mittelpunkt der französischen

Macht gewonnen und die gefährlichste Entzweiung geschürt.“

 

          Leopold von Ranke, Französische Geschichte II (Reprint Phaidon Verlag), S. 178 

         Als Grenze beider Reiche werden 1659 die Pyrenäen bestimmt.  Danach heißt der Vertrag

         Pyrenäenfriede.  Und Ludwig heiratet die Infantin Maria Theresia, eine Tochter Philipps.

Vz 3 [Brüssel und Dôle durch Langres niedergeworfen]  Die Aufgabe verborgener Rivalität

bedeutet zunächst Frieden, aber neun Jahre später, dass  o f f e n e  Rivalität an die Stelle

der verborgenen tritt, mithin der Krieg wieder ausbricht.  Die von N. bewusst eingebaute

Zweideutigkeit verweist also auf einen kurzlebigen Frieden.  Im ersten Reunionskrieg von

1668, wird die zu Spanien gehörende, von Brüssel aus regierte Freigrafschaft Burgund

mit der Stadt Dôle von den Franzosen besetzt.  Dôle steht hier also für die Franche Comté,

und die alte Festungsstadt Langres für Frankreich.   Im anschließenden Frieden wieder an

Spanien gefallen, wird die Franche Comté 1674 im Holländischen Krieg erneut besetzt

und geht diesmal endgültig an Frankreich, das außerdem einige Städte auf dem Territorium

der spanischen Niederlande erhält. 

Vz 4  [Seuche in Mecheln]  Aber Brüssel und Mecheln, der Bischofssitz, bleiben im Frieden

von Nimwegen 1678/79 bei Spanien, 10/54 (Kap.1).  Verglichen mit den erzkatholischen

Spaniern gelten dem Seher seine Landsleute, die damals Protestanten noch tolerieren,

als >unsichere Kantonisten<.  Zudem werden 1682 auf einem vom König einberufenen

Konzil die Gallikanischen Freiheiten bestätigt, zu denen gehört, dass die geistliche Gewalt

des Papstes durch nationale Konzilien beschränkt ist.  In der Ausbreitung demokratischer

Ideen erkennt N. eine geistige >Seuche<.  Er unterstellt dem französischen Vordringen auf

spanisches Territorium die Absicht (pour…), den Ungehorsam gegen den geistlichen Herrn

(Bischofssitz Mecheln) auch dort zu verbreiten.  N. wittert überall den Beginn der Apostasie,

des Abfalls vom Glauben, auch da, wo er noch nicht ist.

 

 

        Bedrückung der Hugenotten (1685)

 

03/06   Dans temples clos le foudre y entrera,/

Les citadins dedans leurs forts greués:/

Cheueaux, beufs, hômes. L’ ôde mur touchera,/

Par faim, soif sous les plus foibles arnés.  (1555)

 

In verschlossene Tempel wird der Blitz einschlagen./

Die Bürger (werden) in ihren Festungen bedrückt./

Pferde, Rinder, Menschen.  Die Woge erreicht Mauer./ 

Durch Hunger, Durst unter den Schwächsten(sind sie) erschöpft.

 

1) Zum Blitz s. Glossar unter -> foudre.

2) Mittelfrz. v. grever niederdrücken (accabler), heimsuchen (affliger),

quälen (tourmenter), > lat. v. gravare beladen

3) Zur „Woge“ vgl. Glossar unter -> deluge.

4) Zu Hunger und Durst s. Glossar unter -> faim und -> soif.

Altfrz. v. arner überanstrengen, erschöpfen (éreinter)

 

 

Vz 1 [In verschlossene Tempel …]  Protestantische Kirchen heißen französisch „Tempel“.  Nach

dem Regierungsantritt Ludwigs XIV. im Jahr 1661 wird der französische Protestantismus immer

stärker unterdrückt.  Die Ausübung des calvinistischen Glaubens wird aus der Öffentlichkeit

gedrängt und unterliegt auch sonst immer mehr Einschränkungen.  Protestantische Prediger

dürfen nicht mehr in Nachbargemeinden predigen.  Reiche hugenottische Gemeinden dürfen

arme Gemeinden dieses Glaubens nicht mehr unterstützen.  Es darf kein Katholik mehr bekehrt

werden, und >Mischehen< sind verboten.  So werden die reformierten Gemeinden Frankreichs

voneinander und von der übrigen Gesellschaft isoliert.  Sie sind schon „v e r schlossen“ (clos),

noch ehe sie dann ganz  g e schlossen werden (fermés).

Vz 1/2 [… wird der Blitz einschlagen/ Bürger bedrückt]  Der >Blitz< ist der vom König verhängte

Bann gegen den >vorgeblich reformierten Glauben<.  Das Toleranzedikt von Nantes aus dem

Jahr 1598, 5/72 (Kap.6), wird im Oktober 1685 in Fontainebleau vollständig aufgehoben. 

Protestantische Gottesdienste werden verboten, die Zerstörung der „Tempel“ angeordnet. 

Prediger dieses Glaubens, die sich nicht bekehren wollen, werden des Landes verwiesen. 

Den anderen >einfachen< Hugenotten ist es verboten auszuwandern.  So werden die protestan-

tischen Franzosen „in ihren Festungen bedrückt“.  Die >Festungen< sind hier als die Festen

des Glaubens, d.h. als Kirchen zu verstehen.  Denn militärische Sicherheitsplätze für Hugenotten

gibt es schon seit 1628 nicht mehr, als La Rochelle gefallen ist.

Vz 3 [Woge erreicht Mauer/ Pferde, Rinder, Menschen] Der mit dem >Blitz< losbrechende

Gewittersturm bringt eine >Woge<, eine Überflutung mit sich, die die Mauern der protestan-

tischen Tempel erreicht und sie einreißt.  Die zerstörerische >Woge< steht für die katholische

Lehre, die andere Lehren verdrängt, sie >unter sich begräbt<, s. Glossar unter deluge

Trotz des Auswanderungsverbots sind es ganze Gemeinden, vor allem im Süden des Landes,

die sich auf den Weg ins Exil machen, als klar wird, dass das Edikt nicht zurückgenommen

werden wird.  Meist ist die Schweiz das erste Ziel der Bedrängten, 2/64 (s.u.).  Die Menschen

nehmen mit, was sie an Wertvollem besitzen, obwohl sie sich damit wegen des Verbots

gefährden.  Bei den Ziehenden sieht man „Pferde“, manchmal auch „Rinder“.

Vz 4 [Hunger und Durst]  Als Begleitumstand illegal Reisender könnten Hunger und Durst hier

wörtlich zu verstehen sein.  Aber N. meint das Verlangen nach dem Brot und dem Wein der

Kommunion, dargereicht im protestantischen Ritus.  Sie sind seit Oktober 1685 in Frankreich

nicht mehr legal zu bekommen und werden entbehrt.

 

 

        Das >Gesetz der Cevennen bebt<, und ein >großer Hafen< ist überfordert

 

02/64   Seicher de faim, de soif gent Geneuoise/

Espoir prochain viendra au defaillir,/

Sur point tremblant sera loy Gebenoise./

Classe au grand port ne se peut acuilir. (1555)

 

Es vertrocknet vor Hunger, vor Durst das Genfer Volk,/

(die) nächste Hoffnung wird schwinden./

Genau dann, wenn das Gesetz der Cevennen bebt,/

wird (eine) Flotte im großen Hafen nicht Aufnahme finden können.

 

1) Zu Hunger und Durst s. Glossar unter -> faim und -> soif.

3) Lat. Cebenna Mons die Cevennen im Südosten des Zentralmassivs.

4) Zu Flotte und Hafen s. Glossar unter -> classe und -> port.

 

 

Vz 2 [Nächste Hoffnung …]  Seit dem Regierungsantritt Ludwigs XIV. im Jahr 1661 werden

die protestantischen Gemeinden Frankreichs zunehmend unterdrückt, 3/6 (s.o.).  Aber man hofft

noch darauf, dass der junge König sich besinnen und auch den protestantischen Untertanen

seinen Schutz nicht versagen werde.  Noch 1682 kommt Hoffnung auf, als der König in einem

Rundschreiben an die französischen Bischöfe empfiehlt, die Protestanten „mit Milde zu schonen

und sich nur der Kraft der Gründe zu bedienen, um sie zur Erkenntnis zu bringen“ (zit. nach

Brandenburg, I. und K., Hugenotten, Geschichte eines Martyriums, Wiesbaden 1998, S. 94).

Vz 3 [… schwindet/ Gesetz der Cevennen bebt]  In den abgelegenen Bergregionen der Cevennen

sind im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert Hugenottengemeinden gehäuft anzutreffen.  

Dass der Staat sie überhaupt toleriert, verdanken sie dem Edikt von Nantes aus dem Jahr 1598. 

Es ist dieses Edikt, das hier als >Gesetz der Cevennen< verdeckt angesprochen wird.  Das

>Beben< dieses Gesetzes bedeutet seine politische Erschütterung.  Das Edikt von Nantes wird

1685 durch Ludwig XIV. komplett aufgehoben.  Die Hugenotten dürfen ihre Religion nicht mehr

ausüben. 

Vz 1 [Es vertrocknet vor Hunger, Durst …]  Die französischen Protestanten sind aufgefordert,

sich zu bekehren und in die katholische Kirche zurückzukehren.  Sie entbehren das Brot und

den Wein des Abendmahls, dargereicht im protestantischen Ritus.  Dieser spezielle >Hunger<

und >Durst< darf nicht mehr gestillt werden. 

Vz 1 [… das Genfer Volk]  In Genf hat 150 Jahre zuvor Calvin gelehrt, die Stadt ist ein Zentrum

des europäischen Protestantismus.  Im Kontext der Deutung sind mit dem >Genfer Volk< nicht

die Bewohner der Stadt gemeint, sondern die den Lehren Calvins folgenden französischen

Hugenotten.  Die >Genfer< sind hier die an den Genfer Lehren festhaltenden Franzosen.

Vz 1 [Großer Hafen …]  Es sind mehrere hunderttausend Hugenotten, die teilweise schon

zuvor, aber stark vermehrt seit 1685 („Genau dann, wenn …“) Frankreich verlassen, um im

protestantischen Ausland ihren Glauben ausüben zu können.  Bevorzugtes, für die Südfranzo-

sen nächstgelegenes Ziel der illegal Auswandernden sind die protestantischen Kantone der

Schweiz.  Sie dienen als >Hafen in stürmischer See<, d.h. als Ort der Zuflucht in religiös

bedingter Bedrängnis.  Bildlich steht das Meer für den Bereich des Glaubens und seine

Oberfläche für die Religion, soweit sie öffentlich ausgeübt wird.

Vz 4 [… für Flotte zu klein]  Die Schweizer helfen, so gut sie können, sind aber von der

schieren Zahl der in Not Geratenen überfordert.  Einen erheblichen Teil der Flüchtlinge

leiten sie später nach Deutschland weiter, wo einige Fürsten, voran der preußische Kurfürst,

ihnen Aufnahme gewähren.  Von der Arche als Schiff des Heils abgeleitet, ist den Kirchen-

vätern das >Schiff< als symbolisches Bild der Kirche geläufig.  N. löst diese Metapher aus

dem katholischen Kontext und verwendet sie für Glaubensgemeinschaften schlechthin. 

So steht hier die >Flotte< für die Vielzahl der vertriebenen Hugenottengemeinden.