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        Kapitel 29  Der Papst und die >Wiedergeburt< Italiens

Die Vereinigung Italiens im 19. Jahrhundert wird in den Centu-

rien vergleichsweise ausführlich behandelt, und man fragt sich

warum.  Nostradamus´ geistige Heimat ist die katholische Kirche,

deren Oberhaupt wegen der >Wiedergeburt< Italiens in Bedrängnis

gerät.  Österreich, das den letzten Kaiser des alten Reiches

gestellt hat, muss wegen der Gründung Italiens Gebietsverluste

hinnehmen  -  Stück für Stück versinken die letzten Rudimente

der mittelalterlichen Ordnung Europas. 

Dazu ist Italien wohl das einzige Land außer Frankreich, das

N. persönlich bereist hat und schon deshalb einen zweiten

geographischen Schwerpunkt in den Centurien bildet. Die

imperiale Politik Napoleons wirkt nach, in Italien ähnlich wie

in Deutschland.  Die in vielen Fürstentümern verstreut lebenden

Bürger beginnen es als Gebot der Humanität zu empfinden, dass

die Nation ihre kulturelle Eigenart erkennen und zur politischen

Einheit finden müsse, um nicht der Vorherrschaft anderer Nationen

unterworfen zu werden. Die Italiener streben nach der

>Wiedergeburt< ihrer Nation, dem risorgimento  - ein inhaltlich

und sprachlich der risurrezione, der Auferstehung verwandter

Begriff, an dem deutlich wird, dass hier ein politisches Ziel

religiös aufgeladen wird (>Erlösung durch die Nation<).  Das

führt die Italiener in den Konflikt mit der Kirche, die einen

weiten Weg zurückgelegt hat von der augustinischen civitas dei,

der geistigen Gemeinschaft derer, die Gott zustreben, bis zur

Staatlichkeit des Patrimonium Petri, des Kirchenstaates.

 

            Auszug aus dem historischen Inhaltsverzeichnis

            06/13   Ein neuer Papst wird für moderner gehalten als er ist

            08/53   Himmelweit entfernt von einer Sympathie für republikanische Ideen

            07/20   Cavour auf dem Pariser Kongress im Frühjahr 1856

            08/08   Kämpfe am Vorabend der Einheit Italiens 1859/60

            08/07   Frankreich nutzt die italienische Einigung zu seinem Vorteil

            01/06   Piemont verdrängt Frankreich und den Papst

            10/64   Auch Österreich muss zurückstecken, verliert die Toskana

            05/42   Savoyen >zieht sich aus Italien zurück<, Österreich wird konstitutionell

            05/03   Der König Italiens ist von bourbonischem Geblüt …

            05/39   … und somit ein >wahrer Zweig der Lilienblume<

          03/63   Wenn es mit der weltlichen Macht des Papstes vorbei ist,

tut der „große Nachbar“ es ihm gleich

 

        Ein neuer Papst wird für moderner gehalten als er ist

 

06/13    Vn dubieux ne viendra loing du regne,/

La plus grand part le voudra soustenir./

Vn Capitol ne voudra point qu’ il regne,/

Sa grande charge ne pourra maintenir. (1568)

 

Ein Zweifelhafter wird nicht wegkommen von der Herrschaft,/

der größte Teil wird ihn unterstützen wollen./

Ein Capitol wird ihn ganz und gar nicht herrschen lassen wollen./ 

Seine große Bürde wird er nicht erhalten können.

 

1) Lat. Adj. dubius ungewiss; zweifelhaft.  Loing de bedeutet  r ä u m l i c h e  

Distanz, wörtlich: „… wird nicht  kommen fern von der Herrschaft“.

 

 

Vz 1 [Ein Zweifelhafter …]  Der im Juni 1846 gewählte Papst Pius IX. lässt zu Beginn seines

Pontifikats politische Gefangene frei, gewährt eine beschränkte Rede- und Pressefreiheit und lässt

Verbannte zurückkehren.  Daher glauben die Italiener, einen Mann von liberaler, reformerischer

Gesinnung vor sich zu haben.   Aber die revolutionäre Bewegung des Jahres 1848, die auch die

Römer erfasst, überfordert Pius bei weitem.  Einem Krieg gegen Österreich beizutreten weigert

er sich, weil dann Katholiken gegen Katholiken kämpfen würden.  Die Idee der italienischen Einheit

- unter Einbeziehung des Kirchenstaates -  widerspricht seiner Auffassung von der Souveränität des

päpstlichen Amtes.  So beginnen die Römer, an der patriotisch-italienischen Gesinnung des neuen

Papstes zu zweifeln, gilt er ihnen zunehmend als ein „Zweifelhafter“.

Vz 1/2 [… wird nicht wegkommen von der Herrschaft, wird unterstützt]  Im November 1848 muss

Pius aus Rom fliehen, weil ihm unzumutbar Scheinendes abverlangt wird.  Um seine Rückkehr zu

ermöglichen, ruft er fremde katholische Mächte, nämlich Österreich und Frankreich zu Hilfe.  Sie

schicken ihre Heere und wollen dadurch „ihn“ und die politische Zersplitterung Italiens „unterstützen“. 

Im Frühjahr 1850 kann der Papst nach Rom zurückkehren.

Vz 3 [Ein Kapitol lässt ihn nicht herrschen]  Das antike Kapitol war politischer und religiöser Mittel-

punkt Roms.  Die Italiener des neunzehnten Jahrhunderts halten fest an der Idee des risorgimento,

der >Wiedergeburt< Italiens als Nation.  Im Jahr 1860 wird der Kirchenstaat schon weitgehend

gestutzt, und 1870 wird die Eingliederung des verbliebenen Rumpfes in das neue Königreich

gegen den Willen des Papstes durchgesetzt.

Vz 4 [kann Bürde nicht erhalten]  „Bürde“ oder „Last“ nennt der Seher hier den Kirchenstaat. 

Über dessen Verlust doch lieber erleichtert zu sein als ihn zu beklagen, legt der Seher dem Papst

damit nahe.

 

 

        Himmelweit entfernt von einer Sympathie für republikanische Ideen

 

08/53    Dedans Bolongne vouldra laver ses fautes,/

Il ne pourra au temple de soleil,/

Il volera faisant choses si hautes,/

En hierachie n’ en fut oncq vn pareil. (1568)

 

In Bologna wird er seine Fehler abwaschen wollen,/

(aber) er wird (es) nicht können im Tempel der Sonne./

Er wird sehr hochfliegende Dinge vollbringen,/

in der Hierarchie gab es niemals einen Ebenbürtigen.

 

3) Wörtlich: „Er wird (empor)fliegen, sehr hohe Dinge vollbringend“.

 

 

Als es 1848 vielerorts in Europa zu antifeudalen, bürgerlichen Umsturzbestrebungen kommt,

gerät die katholische Kirche in Konflikt mit dem Wunsch vieler Italiener, ihr Land politisch zu

vereinigen.  Die damals überwiegend republikanisch gesonnenen italienischen Patrioten würden

in dem neuen Papst gern einen Vorkämpfer ihrer Bewegung erkennen.

Vz 1 [Fehler …]  Aber von einer Sympathie für republikanische Ideen ist Papst Pius IX.

„himmelweit entfernt“ (L. v. Ranke) und fordert die Italiener auf, ihren Fürsten gehorsam zu sein. 

Im November 1848 wird er von aufgebrachtem Volk in seinem Palast belagert und kann sich

den auf ihn einstürzenden Zumutungen nur durch Flucht entziehen.  Zur Wiederherstellung seiner

Autorität ruft er ausländische katholische Mächte zu Hilfe.  Daraufhin wird Rom von französischen,

Bologna von österreichischen Truppen erobert.  Die antimoderne Gesinnung des Papstes, sein

fehlender Einsatz für die italienische Einigung sowie die Inanspruchnahme ausländischer

Besatzungsmächte gelten den italienischen Patrioten als schwere „Fehler“. 

Vz 1/2 [… will er abwaschen, kann es aber nicht]  Um seinem gesunkenen Ansehen aufzuhelfen,

unternimmt Pius nach der Rückkehr aus dem Exil mehrere Reisen.  Außerhalb seiner Domäne

zum Teil begeistert empfangen, bekommt Pius im Kirchenstaat selbst die Vorbehalte gegen

seine Amtsführung zu spüren.  Er traut seiner persönlichen Autorität wohl zu, das heraufziehende

Gewitter des Umsturzes noch einmal zu vertreiben, vermag dies aber nicht wirklich.  Er werde

„seine Fehler abwaschen wollen“, dies aber „nicht können im Tempel der Sonne“, dem Kirchen-

staat. (Die Sonne als Symbol reserviert N. für den in Christus offenbar gewordenen Gott, -> sol).

In Bologna bricht kurz nach dem Abzug der Österreicher im Jahr 1859 die Empörung offen aus. 

Die Stadt sagt sich los vom Papst und unterstützt Sardinien-Piemont, das die >Wiedergeburt<

der Nation vorantreibt.

Vz 3/4 [hochfliegende Dinge]  Zur mangelnden Bereitschaft, das Schwinden seiner weltlichen

Macht hinzunehmen, kommt bei Pius IX. ein gesteigertes Bewusstsein seines geistlichen

Primates in der katholischen Welt und das Bedürfnis, die Katholiken darüber zu belehren,

was er die Irrtümer der Zeit nennt.  Im Geist seiner unumschränkten Autorität verkündet er

die selbst im Hochmittelalter umstrittene These von der Erbsündefreiheit Mariens, aus der

abgeleitet wird, dass sie >unbefleckt empfangen< ward.  Höhepunkt seines Schaffens ist

dann das Dogma vom Juli 1870, dass der Papst unfehlbar sei, wenn er Lehrmeinungen

verkünde.  Zwei Monate nach diesen „hochfliegenden Dingen“ ist es mit der weltlichen

Herrschaft des Papstes endgültig vorbei  -  deutlich herauszuhören, wie sich der prinzipiell

kirchentreue Seher über diesen Mann mokiert.

 

 

        Cavour auf dem Pariser Kongress im Frühjahr 1856

 

   07/20    Ambassadeurs de la Toscane langue*,/

                    Auril & May Alpes & mer passer,/

                    Celuy de veau exposera l’ harangue,/

                    Vie Gauloise ne venant effacer.  (1568)

 

                    Botschafter toskanischer Sprache/

                    überqueren (im) April und Mai Alpen und Meer./

                    Jener vom Kalb wird die öffentliche Ansprache halten,/

                    französisches Leben zu tilgen, gelingt ihm nicht.

 

 

Vz 3 [Jener vom Kalb… ]  Turin hieß in römischer Zeit Augusta Taurinorum; der Name der Stadt

geht also auf die lateinischen tauri, die Stiere zurück.  „Jener vom Kalb“ könnte demnach ein Mann

aus Turin sein, ein Kind dieser Stadt.  Graf Benso de Cavour, ein gebürtiger Turiner, wird 1852

piemontesischer Ministerpräsident und avanciert dann zum erfolgreichsten italienischen Politiker

des neunzehnten Jahrhunderts, ist als Reichseiniger der >italienische Bismarck<.

Vz 2/3 [… überquert Alpen/ Ansprache]  Als Verfechter der italienischen Einigung nimmt er im

Frühjahr 1856 teil am Pariser Kongress, auf dem es um den Frieden nach dem Krimkrieg geht. 

Er fordert von Kaiser Napoleon III. öffentlich Unterstützung ein für die Sache Italiens als Gegen-

leistung für die Kriegsteilnahme Sardinien-Piemonts auf französischer Seite.

Vz 4 [… tilgt französisches Leben nicht]  Aber er hat noch keinen Erfolg, der politische Einfluss

Frankreichs in Italien lebt weiter, kann noch nicht zurückgedrängt werden.  Erst fünf Jahre später,

im März 1861, kann Cavour die Einigung Italiens unter dem piemontesischen König Viktor

Emanuel II. erwirken, zunächst noch ohne Venetien, Latium und Rom.

Vz 1 [Botschafter toskanischer Sprache]  Der zentralitalienische Dialekt, das gesprochene

Florentinisch, wird dann im Zuge der Vereinigung des Landes als Schriftsprache verbindlich. 

Die >toskanische Sprache< wird im Verskontext zur Metapher für die Rede derer, die als Für-

sprecher der nationalen Einheit auftreten.  Ein >Botschafter toskanischer Sprache<, wie Cavour

zu Beginn des Verses genannt wird, ist mit diesem Prädikat ausgewiesen als italienischer Patriot,

der sich auch im Ausland für die Einheit der Nation einsetzt.

 

 

        Kämpfe am Vorabend der Einheit Italiens 1859/60 

 

08/08    Pres de linterne dans de tonnes fermez,/

Chiuaz fera pour l‘ Aigle la menee,/

L’ esleu cassé luy ses gens enfermez,/

Dedans Turin rapt espouse emmenee. (1568)

 

Nah bei Literno von Kanonen eingeschlossen,/

wegen des Adlers veranstaltet Chivasso das Gefecht./

Der Gewählte abgesetzt, er (und) seine Leute eingesperrt,/

nach Turin (wird) geraubte Gattin geführt.

 

1) Mittelfrz. n.f. tonne großes Fass, n.m. tonneau Element einer

Befestigung (engin de guerre), Art einfache Kanone (sorte de bombarde),

2) Zum Adler s. Glossar unter aigle.

Mittelfrz. n.f. menée Umtriebe (intrigue), Gefechtsbewegung (manoeuvre).

4) N.m. rapt Menschenraub.  Hier ist rapt allerdings etwas Anderes,

nämlich ein verkürztes lat. p.p.p. rapta geraubt, attributiv zu espouse.

Zur Gattin s. Glossar unter espouse.

 

 

Vz 2 [Chivasso veranstaltet Manöver]  Der Adler ist das alte Signum des Kaiserreichs, s. Glossar.

Chivasso, eine Stadt am Po unweit von Turin, steht für Turin, die Hauptstadt des Piemont. 

Unterstützt von einem >Adler<, das ist Kaiser Napoleon III., führt das Königreich Sardinien-

Piemont im Jahr 1859 Krieg „wegen des Adlers“  - wegen des anderen, österreichischen Adlers - ,

um diesen von italienischem Boden zu vertreiben.

Vz 1 [Literno/ eingeschlossen] Mit vergleichbarer Zielsetzung kämpfen bei einer Ortschaft namens

Villa Literno am Fluss Volturno in der Tiefebene nördlich von Neapel im Jahr 1860 piemontesische

Truppen gegen die Armee des Königs beider Sizilien.  Auch die Freischaren Garibaldis kämpfen

auf Seiten Piemonts, und ihre Gegner werden in der Festung Caserta „eingeschlossen“.  Im

Februar 1861 kapituliert der König von Neapel.

Vz 4 [geraubte Gattin nach Turin entführt]  Im März 1861 rufen die Anhänger des risorgimento

das neue Königreich Italien aus, dessen provisorische Hauptstadt „Turin“ wird (bis 1865). 

Dem König von Sardinien-Piemont, Viktor Emanuel, wird auch das süditalienische Volk anver-

traut.  Biblisch gesprochen, wird ihm dieses Volk >als Gattin angetraut<, und er >führt es heim<,

4/2 (Kap.12).  N. aber hält die Legitimität der Neugründung Italiens für mindestens zweifelhaft,

denn er nennt das Volk Süditaliens >geraubte Gattin<.  Er bedauert den Zerfall des alten Kaiser-

reichs zugunsten ethnisch bestimmter Nationen.

Vz 3 [Gewählter abgesetzt und eingesperrt]  „Der Gewählte“ ist Papst Pius IX.  Er muss im

Dezember 1860 hinnehmen, dass der größte Teil des Kirchenstaates von piemontesischen

Truppen und Freischärlern besetzt wird.  Im Dezember 1870 wird auch der verbliebene Rumpf

des Patrimonium Petri an Italien angegliedert, und Pius wird „abgesetzt“, nicht als Kirchenober-

haupt, aber als weltlicher Herrscher.   Beleidigt nennt er sich einen >Gefangenen im Vatikan<,

obwohl man ihm das Reisen nicht verbietet.  Doch bildlich wird ein >König in die Festung

gesperrt<, wenn sein Thron abgeschafft wird, 8/37 (Kap.8).

 

 

        Frankreich nutzt die italienische Einigung zu seinem Vorteil

 

08/07    Verceil, Milan donra intelligence/

Dedans Tycin sera faite la paye (!)./

Courir par Seine eau, sang, feu par Florence./

Vnique choir (!) d’ hault en bas faisant maye.  (1568)

 

Mailand wird Vercelli sein Einverständnis geben,/

im Tessin wird der Lohn bezahlt werden./ 

Durch die Seine fließt Wasser, Blut und Feuer durch Florenz./

Einzigartiger stürzt von oben nach unten und empört sich.

 

1) Mittelfrz. n.f. intelligence Einvernehmen (accord), Übereinkunft (entente);

andere mögliche Übersetzung: „Vercelli wird Mailand sein Einverständnis geben“.

2) N.f. paie Lohn.  Manche späteren Ausgaben haben plaie Wunde.

4) Mittelfrz. Adj. mais schlecht (mauvais), Wendung faire le mauvais

sich auflehnen, sich empören (rebeller).  Manche späteren Ausgaben

haben choix statt choir.

 

 

Vz 1 [Vercelli und Mailand einvernehmlich]  Die Stadt Vercelli liegt im Piemont, Mailand ist die

Hauptstadt der Lombardei.  Graf Benso de Cavour, Ministerpräsident des Königreiches Sardinien-

Piemont, ist Großgrundbesitzer; seine Familie hat im Verchellese, der Landschaft um Vercelli,

umfangreiche Ländereien (Stadler, Peter, Cavour, München 2001 S. 56ff.)  Daher steht hier

>Vercelli< für diesen italienischen Politiker. Nach dem Sieg der französisch-piemontesischen

Truppen gegen die Österreicher bei Magenta (nahe Mailand) am 4.6.1859 ist die Macht Öster-

reichs in der Lombardei gebrochen.  Cavour fährt wenige Tage später nach Mailand und sorgt

für eine dem risorgimento aufgeschlossene Regierung.

Vz 2 [Lohn im Tessin bezahlt]  Der Unterlauf des Flusses Tessin bildet die Grenze zwischen

Piemont und Lombardei.  Aber gemeint ist hier der südlichste Kanton der Schweiz gleichen

Namens als Deckname für die Schweiz als ganze.  Denn in der Schweiz handeln die Diplomaten

den Zürcher Frieden vom November 1859 aus, demzufolge Österreich die Lombardei an Frank-

reich abtritt.  Aus italienischer Sicht ist das der Lohn für Frankreichs Teilnahme am (zweiten) Unab-

hängigkeitskrieg.  Im Turiner Vertrag von 1860 zwischen den verbündeten Siegern geht die Lom-

bardei dann an Sardinien-Piemont, und Frankreich erhält als Kompensation Savoyen und Nizza.

Vz 3 [Blut und Feuer durch Florenz, Wasser durch die Seine]  Im Jahr 1865 wird nach dem Abzug

der französischen Truppen aus Rom der Sitz der italienischen Regierung nach Florenz als der

neuen provisorischen Hauptstadt verlegt.  „Blut und Feuer durch Florenz“ sind zunächst Metaphern. 

Die italienischen Patrioten vergießen ihr Herzblut und gehen mit Feuereifer ans Werk.  Auf den

acht Schlachtfeldern des Unabhängigkeitskrieges wird aber auch viel reales Blut vergossen. 

Paris („Seine“) hat 1859 aktiv auf Seiten der Italiener eingegriffen, spielt aber danach nur noch

die Rolle dessen, der geschehen lässt, was nicht aufzuhalten ist  -  wie das Wasser der Seine.

Vz 4 [Einzigartiger stürzt]  Der „Einzigartige“ erklärt 1864 im Syllabus errorum, dass sich Staat

und Wissenschaft der kirchlichen Autorität unterordnen müssen.  Einzigartig ist seine Fehlein-

schätzung der ihm verbliebenen Autorität und die Verkennung der Tatsache, dass die italienischen

Patrioten von einem andern Gott ihr Heil erwarten.  Auch N. hat die Einzigartigkeit ironisch gemeint. 

Pius‘ Sturz aus der weltlichen Herrschaft, gegen den er vergebens protestiert, vollzieht sich parallel

zur >Wiedergeburt< Italiens als Nation.

 

 

        Piemont verdrängt Frankreich und den Papst

 

01/06    L‘ oeil de Rauenne sera destitué,/

Quand à ses pieds les aesles falliront,/

Les deux de Bresse auront constitué/

Turin, Verseil que Gaulois fouleront.  (1555)

 

Das Auge Ravennas wird abgesetzt sein,/

wenn zu seinen Füßen die Flügel sinken werden./

Die zwei von Bresse werden errichtet haben/

Turin, Vercelli, welche (die) Gallier herabsetzen werden.

 

2) Mittelfrz. v. faillir keinen Erfolg haben (ne pas réussir), fehlschlagen

(échouer) > lat. v. fallere zu Fall bringen

3) V. constituer auch: schaffen, gründen, errichten (créer)

4) Mittelfrz. v. fouler auch: in Verruf bringen (discréditer), herabsetzen (rabaisser)

 

 

Vz 1 [Auge Ravennas abgesetzt …]  Das Auge galt als göttliches Organ, das göttliche Eigenschaften

wie Allwissenheit und Vollkommenheit symbolisiert.  Die oberste Aufsicht über die katholische Wahr-

heit übt der Papst aus, >stellvertretend< für den Herrgott.  Diesem Selbstverständnis des Kirchen-

oberhauptes entsprechend heißt es hier >Auge<.  Ravenna gehört bis 1861 zum Kirchenstaat. 

Als im März 1861 das Königreich Italien ausgerufen wird, schließt sich die Emilia-Romagna mit der

Stadt Ravenna ihm an, gegen den Willen des Papstes, dessen Domäne zurückgestutzt wird und

nur noch Latium und Rom umfasst.

Vz 2 [… lässt die Flügel sinken]  Im September 1870 wird der Papst als weltlicher Herrscher abge-

setzt. Obwohl er kein Reiseverbot erhält, nennt er sich selbst einen >Gefangenen im Vatikan<, weil

er sich in seiner Souveränität beschränkt fühlt.  Bildlich >lässt er die Flügel sinken< wie ein Vogel,

der nicht mehr fliegen mag.

Vz 3 [Die zwei von Bresse …]  Die Bresse, das Land zwischen westlichem Jura und der Saône, ist

zu Lebzeiten des Sehers Teil des Herzogtums Savoyen.  Seit 1815 gehört Savoyen zum Herzogtum,

später Königtum Sardinien-Piemont.  Dessen König, Viktor Emanuel, stammt aus der Familie

Savoyen-Carignano, sein Ministerpräsident Cavour entstammt ebenfalls dem Adel Savoyens

(Stadler, Peter, Cavour, München 2001 S. 29).  Diese beiden Piemontesen werden zusammen zu

Vorkämpfern der italienischen Einheit.  Ihrer savoyardischen Abstammung wegen heißen sie hier

„die zwei von Bresse“.  

Vz 4 [… errichten Turin, Vercelli …]  Turin, die Hauptstadt des Piemont, steht für dessen König

Viktor Emanuel, und Vercelli steht für Graf Cavour, der von dort stammt, 8/7 (s.o.).  Sardinien-

Piemont ist 1859ff die politische Speerspitze des italienischen Nationalgedankens.  Sein König

Viktor Emanuel II. lässt sich 1861 zum König von Italien ausrufen.

Vz 4 [… welche die Gallier herabsetzen]  Diese Gründung geht gegen die Interessen des imperialen

Frankreich, das den Papst und damit den italienischen Partikularismus lange unterstützt hat.  Nach

einem Attentat auf Kaiser Napoleon III., 4/73 (Kap.30), greift Frankreich auf der Seite Piemonts

gegen Österreich ein und setzt danach dem Prozess der italienischen Einigung keinen Widerstand

mehr entgegen, wodurch die politische Macht Frankreichs in Italien „herabgesetzt“ wird.

 

 

        Auch Österreich muss zurückstecken, verliert die Toskana

 

10/64    Pleure Milan, pleure Lucques, Florence,/

Que ton grand Duc sur le char montera,/

Changer le siege pres de Venise s‘ aduance,/

Lors que Colonne à Rome changera.  (1568)

 

Weine, Mailand, weine, Lucca (und) Florenz (darüber),/

dass dein großer Herzog den Wagen besteigen wird,/

den Thron zu verlegen.  In die Nähe Venedigs geht er,/

wenn (eine) große Säule in Rom sich wandeln wird.

 

2) Zu den möglichen Bedeutungen von Duc bei N. s. Glossar.

4) Zu den möglichen Bedeutungen von colonne bei N. s. Glossar .

 

 

Vz 2/3 [großer Herzog verlegt Thron nach Venedig]  Der Habsburger Leopold II. ist bis 1859

Großherzog der Toskana.  Im zweiten italienischen Einigungskrieg verliert Österreich neben der

Lombardei (Mailand) auch die Toskana (Florenz, Lucca).  Venetien bleibt zunächst noch öster-

reichisch, bis 1866.

Vz 4 [Säule wandelt sich]  Den Kirchenstaat heißt bildlich >Tempel der Sonne<, 8/53 (s.o.). 

Zentrale >Säule< in diesem Tempel ist die Institution des Papsttums. Dieses verliert im Zuge der

Vereinigung Italiens seine politische Macht und wandelt sich in diesem Sinne.  Die Emilia-Romagna,

Umbrien und die Marken gehen dem Papst 1859 verloren, 1870 der Rest des Territoriums außer

einem kleinen Areal in Rom, dem Vatikanstaat.

Vz 1 [Weine Mailand…]  Österreich hat bis 1806 den Kaiser des Römischen Reiches gestellt und

1804 ein auf Österreich-Ungarn beschränktes Kaisertum begründet.  Der Rückzug dieser Monarchie

aus der Lombardei und der Toskana ist für N. ein weiterer Schritt auf dem Weg zum endgültigen

Zerfall des Kaiserreichs.  Er sieht die letzten Rudimente der mittelalterlichen Weltordnung versinken. 

Auf Untergänge dieser Art ist er spezialisiert.

 

        Savoyen >zieht sich aus Italien zurück<, Österreich wird konstitutionell

 

05/42    Mars eslevé en son plus hault befroy,/

Fera retraire les Allobrox de France:/

La gent Lombarde fera si grand effroy,/

A ceux de l’ Aigle comprins sous la Balance. (1568)

 

Krieg, angestiegen zu höchstem Alarm,/

wird die Allobroger Frankreichs sich zurückziehen lassen./

Das lombardische Volk wird sehr großen Schrecken bringen/

denen vom Adler, zusammengefasst unter dem Gleichgewicht.

 

1) N.m. beffroi Turmwarte, Wachtturm, Sturmglocke

4) N.f. balance 1. Waage 2. Gleichgewicht.  Groß geschrieben, könnte

hier das Sternbild Waage gemeint sein, aber zwingend ist das nicht.

 

 

Vz 1 [Krieg auf dem Höhepunkt …]  Die drei italienischen Unabhängigkeitskriege fallen in die Zeit

1848 bis 1870.  Die meisten Schlachten gibt es im Jahr 1859, als Piemontesen und Lombarden,

unterstützt von Frankreich, gegen die Österreicher Siege davontragen. 

Vz 2 [… lässt Allobroger Frankreichs sich zurückziehen]  Die keltischen Allobroger siedelten in

Gebieten, zu denen neuzeitlich Savoyen gehört.  Schon im Jahr vor dem italienischen Unabhängig-

keitskrieg von 1859 hat das Königreich Sardinien-Piemont den Franzosen als Lohn für ihre Kriegs-

teilnahme auf italienischer Seite Savoyen versprochen, ein Versprechen, das 1860 eingehalten wird. 

Der Schauplatz des Verses ist Italien und dieses daher Bezugspunkt der Deutung.  Von Italien her

gesehen, >ziehen sich< die Savoyarden 1860 >zurück<.  Die Bezeichnung als „Allobroger Frank-

reichs“ verdeutlicht, wohin sie >sich zurückziehen<, d.h. zu wem die Savoyarden dann gehören

werden. 

Vz 3/4 [Lombarden gegen die vom Adler]  Lombarden ziehen 1859 gemeinsam mit Piemontesen

und Franzosen gegen Österreich und sind siegreich.  Im dritten Unabhängigkeitskrieg von 1866

siegen sie nicht, sind aber mit Preußen verbündet, das die Österreicher bei Königgrätz schlägt. 

In der Folge geht Venetien an das neue Königreich Italien.

Vz 4 [die vom Adler, zusammengefasst unter dem Gleichgewicht]  Unter dem Sinnbild des

„Gleichgewichts“ erfasst N. die Einschränkung der Königsherrschaft durch Konstitutionen, die

die Ansprüche des Volks bzw. führender Schichten auf Teilhabe an der Herrschaft verbriefen.  

Die Niederlagen Österreichs von 1859 und 1866 haben Konsequenzen auch für das Herrschafts-

gefüge im Innern.  Im Jahr 1860 wird die alte Verfassung Ungarns von vor 1848 wiederhergestellt. 

Im Februar 1867 kommt es zum sogenannten Österreichisch-Ungarischen Ausgleich, worunter

die verfassungsrechtlichen Vereinbarungen verstanden werden, durch welche die kaiserliche

und königliche Doppelmonarchie entsteht.  Ende 1867 ergeht die sogenannte Dezember-

verfassung, gültig für die österreichischen Reichsteile.  Bis dahin ist Österreich noch absolu-

tistisch regiert worden.

 

 

        Der König Italiens ist von bourbonischem Geblüt …

 

05/03    Le successeur de la Duché viendra,/

Beaucoup plus outré que la mer Tosquane./

Gauloise branche la Florence tiendra,/

Dans son giron d’ accord nautique Rane. (1568)

 

Der Erbe des Herzogtums wird kommen/

von weit jenseits des toskanischen Meeres./

Gallischer Zweig wird Florenz erhalten./  In

seinem Schoß (ist) einverstanden (der) seefahrende Frosch.

 

4) Lat. n.f. rana Frosch, s Glossar.  N.m. giron Schoß, Ort der Geborgenheit.

 

 

Vz 1 [Erbe des Herzogtums]  Das Großherzogtum Toskana, bis 1859 beherrscht von dem Habs-

burger Leopold II., schließt sich dem 1861 ausgerufenen Königreich Italien an und geht in diesem

auf.  "Nachfolger“ Leopolds ist somit König Viktor Emanuel II. von Italien.

Vz 2/3 [gallischer Zweig erhält Florenz]  Da Heinrich IV. von Frankreich zu Viktor Emanuels Vorfahren

gehört, ist er >Zweig< eines gallischen Stammbaums.  Daher >kommt< Viktor Emanuel seiner Her-

kunft nach >aus Frankreich<, von weit jenseits des ligurischen Meeres. 

Vz 4 [Frosch einverstanden]  Der Wasserfrosch als Grenzgänger zwischen Land und Gewässer steht

hier wie andernorts für die Venezianer mit ihrer in die Adria gebauten Hauptstadt.  Die Seefahrerei

des >Froschs<, damals schon weitgehend Geschichte, eignet sich dennoch als Kennzeichen

Venedigs.  Venetien schließt sich 1866 nach der Niederlage Österreichs gegen Preußen an Italien

an; dieser >Frosch ist einverstanden< mit dem neuen Königreich.

 

 

        … und somit ein >wahrer Zweig der Lilienblume<

 

05/39    Du vraye rameau de fleur de lys issu/

Mis & logé heritier d‘ Hetrurie/

Son sang antique de long tissue,/

Fera Florence florir en tel l’ armoirie.  (1568)

 

Aus dem wahren Zweig der Lilienblume entsprossen,/

(wird er) eingesetzt und aufgenommen als Erbe Etruriens./

Sein uraltes Geblüt, von langer Hand ausgeheckt,/

wird Florenz in diesem Wappen erblühen lassen.

 

3) tissu wörtlich: gewoben; der metaphorische Gebrauch des v. tisser

ist üblich, z.B. tisser intrigues Intrigen spinnen

 

 

Vz 1 [Wahrer Zweig der Lilienblume…]  Das Lilienbanner ist das Wappen der französischen Könige

seit ca. 1130.  Zu Viktor Emanuels Vorfahren zählen Heinrich IV. von Frankreich und dessen zweite

Frau Maria von Medici, Prinzessin von Toskana.  Es ist eine Tochter der beiden, von der er herstammt,

er hat also keinen Anspruch auf den Thron Frankreichs, ist aber „ein wahrer Zweig der Lilienblume“.

Vz 2/4 [… eingesetzt als Erbe Etruriens …/ lässt Florenz erblühen]  König Viktor Emanuel II. von

Sardinien-Piemont wird 1861 zum König von Italien ausgerufen.  Das Großherzogtum Toskana auf

dem Gebiet des antiken „Etrurien“ schließt sich 1860 an Sardinien-Piemont an und geht 1861 im

neuen Königreich Italien auf.  Von 1865 bis 1870 ist Florenz die provisorische Hauptstadt Italiens. 

Vz 4 [von langer Hand ausgeheckt]  Die Bemühungen um die >Wiedergeburt< Italiens als Nation

beginnen nach der Restauration des Wiener Kongresses von 1815, auf dem Italien als Verfügungs-

masse für die Großmächte behandelt wird und als Nation gar nicht zählt.  Sie sind nahezu ein halbes

Jahrhundert später „von langer Hand ausgeheckt“.

Vz 4 [Wappen]  Man könnte gegen diese Deutung einwenden, dass Viktor Emanuel die Lilien nicht

im Wappen führt, wie die letzte Verszeile nahezulegen scheint.  Aber mit den Lilien soll nur ein weite-

res Mal auf die bourbonische Herkunft des Mannes hingewiesen werden, unter dem >Florenz erblüht<.

 

 

        Wenn es mit der weltlichen Macht des Papstes vorbei ist,
                                tut der „große Nachbar“ es ihm gleich

 

03/63    Romain pouuoir sera du tout  abas,/

Son grand voysin imiter ses vestiges:/

Occultes haines ciuiles, & debats/

Retarderont aux buffons leurs folliges. (1555)

 

Römische Macht wird gänzlich am Boden sein,/

ihr großer Nachbar wird in ihre Fußstapfen treten./

Verborgene Gehässigkeiten, bürgerliche, und Streitereien mit Worten,/

ihre Narrheit wird sie bei Possenreißern sich aufhalten lassen.

 

4) N.f. folie Narrheit hier reimbedingt abgewandelt zu folliges

 

  

Vz 1 [Römische Macht gänzlich am Boden]  Untrennbar verbunden mit der Vollendung der politischen

Einheit Italiens endet im Herbst 1870 die Existenz des Kirchenstaates.  Die Römer wollen den Papst

„ganz und gar nicht herrschen lassen“, 6/13 (s.o.).  Infolge des deutsch-französischen Krieges zieht

Frankreich sein in Rom stationierten Truppen ab, woraufhin italienische Truppen am 20.9.1870 Rom

kampflos einnehmen.  Nach einer Volksabstimmung wird die Vereinigung des Restkirchenstaates

mit Italien am 6.10.1870 vom König proklamiert.  Die weltliche Macht der Kirche liegt „gänzlich am

Boden“.

Vz 1/2 [großer Nachbar …]  Es geht um den Niedergang der weltlichen, d.h. politischen Macht des

Papstes und seines „großen Nachbarn“.  Die Rolle des Paten der italienischen Einigungsbestre-

bungen hat in den Jahren 1858ff. der französische Kaiser Napoleon III. übernommen.  Er und das

von ihm geführte Land sind der >große Nachbar< der Römer.

Vz 2 [… tritt in ihre Fußstapfen]  Am 4.9.1870 wird nach verlorener Schlacht Kaiser Napoleon III.

in Paris für abgesetzt erklärt.  Nach der Niederlage gegen Preußen und dessen süddeutsche

Verbündete folgt die (dritte) französische Republik.  Am 1.3.1871 erklärt die französische National-

versammlung den Kaiser endgültig für abgesetzt, 6/52 (Kap.30).  Gemeinsamer Nenner der Vor-

gänge ist die Absetzung zweier christlicher Souveräne, des Papstes als Herrscher des Kirchen-

staates und des Kaisers der Franzosen, der sich zu seiner Legitimation auf die katholische Kirche

gestützt hat.

Vz 3/4   Die zweite Vershälfte erklärt sich aus dem Ressentiment des Sehers gegen den säkularen,

d.h. nicht mehr auf die christliche Religion gegründeten Staat und gegen die Demokratie mit ihren

Parlamenten, in denen die Interessengegensätze der Volksvertreter offen aufeinandertreffen.